Sommer-Festivals:Jenseits des Grünen Hügels

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Raus aus dem Konzertsaal: Bei Festivals wie dem in Mecklenburg-Vorpommern wird in Scheunen und Fabriken musiziert - und im Freien. (Foto: Felix Broede)

Früher waren Festspiele illustre Veranstaltungen. Heute erreichen sie ein breites Publikum.

Von Harald Eggebrecht

Als besonders sollten sie gelten, womöglich sogar als unvergleichlich und einmalig. Herausgehobene Veranstaltungsreihen waren es allemal, immer an ein und demselben Ort mit den besten Künstlern, stets nach der besten Vorbereitung für ein hochgestimmtes, ausgesuchtes Publikum: Festspiele waren so konzipiert, aber das hat sich geändert. Blickt man jetzt auf die beginnende Saison der Festspiele, so haben sie sich in ein allgemeines Sommervergnügen verwandelt - gleichwohl nicht minder anspruchsvoll.

Ob an Nord- oder Ostsee, ob in Großbritannien, Skandinavien oder Frankreich, ob in Deutschland, Österreich, in der Schweiz oder in Italien, überall gibt es Festspiele und Festivals. Für alles: Musik, Tanz, Theater, Kino. Selbst die nur alle fünf Jahre stattfindende documenta in Kassel oder die Biennale in Venedig, also zwei Präsentationen weltweit aktueller Kunst, reihen sich ein in diese Eventkulturkette.

Justus Frantz hat 1986 in Schleswig-Holstein einen neuen Festival-Typ kreiert

Man darf heutzutage, wenn einem danach zumute ist, festlich gekleidet in die "heil'gen Hallen" der Schauspiel- und Opernhäuser und Konzertsäle eintreten oder in Jeans und offenem Hemd, sogar in Bayreuth oder Salzburg, den beiden ehrwürdigen Vorbildern aller Festspiele. Als Richard Wagner 1876 sein quasi Privatfestival erfand in dem von ihm extra dafür konstruierten Festspielhaus auf dem Grünen Hügel in Bayreuth, dachte er auch an das Theater bei den alten Griechen. Dort wurden die Tragödien zunächst als Teil des Dionysoskults feierlich aufgeführt. In diesem ambitionierten Sinne sollten die Festspiele in Bayreuth dazu dienen, seine Werke "in der Weise aufzuführen, dass diese Aufführungen als Muster der Korrektheit meiner nächsten Nachwelt überliefert werden können". All dies war für ein ausgewähltes Publikum. Musikalische Festivitäten und Feiern gab es indes schon zuvor. So fanden etwa seit 1817 alljährlich zu Pfingsten die Niederrheinischen Musikfeste statt; 1845 gründete Franz Liszt die Bonner Beethovenfeste; seit 1890 veranstaltete der berühmte Geiger Joseph Joachim alle zwei Jahre ein Kammermusikfest in Bonn; oder in Zwickau wurde seit 1860 Robert Schumann geehrt.

Als 1920 die ersten Salzburger Festspiele eröffnet wurden, sollten sie durchaus als Gegenpol zu Bayreuth verstanden werden. Dort das Werk eines Mannes im Mittelpunkt in einem extra dafür errichteten Gebäude, hier eine ganze Stadt für Schauspiel, Oper und Konzert im Zeichen eines "Europäismus, der die Zeit von 1750 bis 1850 erfüllt und erhellt hat", wie es einer der Gründungsväter, Hugo von Hofmannsthal, 1919 formulierte. Auch hier steht jedenfalls das Beispielgebende, Stilbildende, Herausragende von Aufführungen und Inszenierungen im Mittelpunkt.

Natürlich wollen jenseits von Bayreuth und Salzburg auch keine heutigen Festivals Mittelmäßiges, Routiniertes oder gar Dürftiges bieten. Doch wollen sie keineswegs exklusiv sein, also nur da zu sein für die "happy few" der Kenner, Eingeweihten und jener, die es sich leisten können. Vielmehr möchten sie in eine Region, Stadt, eine Kirche oder ein Schloss ein vielschichtiges Publikum aus Jung und Alt anlocken mit einem ebenso ansprechenden wie ehrgeizigen Programm. Selbstverständlich wird kein Veranstalter auf Stars verzichten, wenn er sie engagieren kann, aber die meisten Intendanten und Dramaturgen versuchen zuerst einmal aus den Eigenarten ihrer Landschaften und Orte attraktive Ideen zu entwickeln und ebensolche Themen zu setzen.

Es war der Pianist Justus Frantz, der 1986 mit dem Schleswig-Holstein-Musik Festival (SHMF) einen neuen Typus kreierte. Nicht mehr eine Stadt oder ein Gebäude oder das Werk eines Komponisten steht im Zentrum, sondern eine ganze Region wird "festivalisiert". Mit Konzerten und Workshops in der großformatigen alten Scheune genauso wie im bis dahin noch nie für dergleichen benutzten Reitstall. Plötzlich füllen sich Dorfkirchen und kleinstädtische Salontheater, öffnen Herrenhäuser und Schlösser ihre Säle für Kammermusik mit Stars oder hochtalentierten Jungen. Und Kirchen und Konzerthallen in Hamburg, Kiel oder Flensburg werden natürlich auch bespielt. Die Idee zündete und bewirkte eine "Publikums-Demokratisierung" im großen Stil, nach dem Motto: Vor der Musik sind alle gleich. An diesem Wochenende startet das Schleswig-Holstein Musik Festival nun zum 31. Mal.

Zu den Konzerten kommen musikerzieherische Projekte wie das SHMF-Orchester, Meisterkurse und Musiknachmittage auf dem Land dazu. Wobei Justus Frantz für die Orchesterakademie damals zwei der besten Dirigenten und Lehrer gewinnen konnte: Leonard Bernstein und Sergiu Celibidache. Kenner und Laien eilten herbei und lernten dazu noch das Bundesland zwischen Nord- und Ostsee kennen (was den dortigen Hotels und dem Handel einiges in die Kassen spülte).

Mag sich auch manches verändert und abgenutzt haben, das SHMF, bei dem Sponsoren und private Spender über die Landesmittel hinaus eine wichtige Rolle spielen, wurde vorbildlich für weitere flächendeckende Unternehmungen dieser Art: So gibt es seit 1988 das Rheingau Musik Festival, seit 1990 die gleich drei Monate dauernden Festspiele in Mecklenburg-Vorpommern oder seit 1987 die niedersächsischen Musiktage, um nur ein paar zu nennen. Dass überhaupt nach dem Zweiten Weltkrieg und dann wieder nach der Wende 1989 jeweils ein Menge diverser Festivals neu gegründet wurden, sei wenigstens erwähnt.

Inzwischen ist die Vielfalt und Verschiedenheit von Musikfesten so groß, dass sie gleichsam ein europäisches Veranstaltungsnetz bilden. Für jedermann ist daher etwas dabei, und Abertausende strömen hin: etwa zum Kammermusikfest "Spannungen" im Wasserkraftwerk Heimbach in der Eifel, das der Pianist Lars Vogt seit 1998 für jeweils eine gute Juniwoche initiiert hat. Oder man fährt ins burgenländischen Lockenhaus, wo der große Geiger Gidon Kremer ein Werkstattfestival konzipiert hat, das jetzt der Cellist Nicolas Altstaedt leitet. Wer Oper im Freien liebt, pilgert in die Arena von Verona oder zur Seebühne in Bregenz. Wer es intimer mag, den zieht es zu den Kammermusiktagen in Hitzacker an der Elbe. Alte-Musik-Freunde besuchen die Regensburger Tage Alter Musik; wer wissen will, was es Neues gibt, wird die Donaueschinger Musiktage nicht versäumen, die schon seit 1921 die Trends der jeweiligen Avantgarde präsentieren. Die Kette ließe sich mühelos fortsetzen. ( siehe Überblick unten)

Europaweit hat man im Sommer keine Schwierigkeiten, ein Festival in der Nähe zu finden

Obwohl manches Vorhaben gescheitert ist, etliche Festivals wieder verschwunden sind, bleiben solche Konzepte weiter interessant. Kein Wunder, dass sich die "Festivalitis" auch über die Sommermonate hinaus ausgeweitet hat. Das fängt nicht allein mit dem feinen "Festspielfrühling Rügen" und dem großformatigen "Heidelberger Frühling" an und hört nicht auf mit dem novemberlichen Piano Festival in Luzern. All diese Unternehmen kosten Geld, das im Großen und Ganzen aus drei Quellen stammt: öffentlichen Mitteln, Sponsoring und Mäzenatentum, Kartenverkaufserlösen. Der Ausstrahlungseffekt und die Attraktivität eines Festivals lassen sich gut messen an dem, was die zahlende Anwesenheit des Publikums Stadt und Land bringt. Fachleute sprechen bei diesem indirekten positiven Wirtschaftseffekt von "Umwegrentabilität".

Jedenfalls dürfte es heute europaweit kaum Schwierigkeiten bereiten, während der Ferien jenseits von Badestrand, Bergtour, Segeltörn und anderem "um die Ecke" eine Veranstaltungsreihe zu finden, bei der musiziert oder gesungen wird nach allen Regeln der Kunst und die man leicht besuchen kann. Vorausgesetzt, es sind noch Karten da. Übrigens war das Gerede vom Verschwinden der sogenannten klassischen Musik immer schon fragwürdig. Wer die Mengen sieht, die allabendlich Kirchen und Säle füllen, auf Plätzen und in Gärten sich einfinden zu Openair-Events, wer erlebt, welchen Publikumszulauf Meisterklassen in abgelegenen Gehöften haben, der ist überzeugt von der emotionalen Faszination und, pathetisch gesagt, demokratischen Vitalität der Musik.

© SZ vom 01.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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