Sexismus-Debatte als "Tugendfuror":#Aufschrei wegen Gauck

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"Das ist symptomatisch": Nachdem er die Debatte zu Alltagssexismus als "Tugendfuror" bezeichnete, haben Netzfeministinnen dem Bundespräsidenten einen offenen Brief geschickt. Ihr Vorwurf: Er mache die Wut der Frauen lächerlich.

Von Antonie Rietzschel

Ein Unternehmen, das den Empfangsbereich nach Oberweite besetzt, ein Therapeut, der seine Patientin auf ihre weiblichen Reize anspricht, der ältere Mann, der einer Zwölfjährigen hinterherpfeift - viele Diskriminierungen und Verfehlungen sind während der Debatte über Sexismus im Alltag bekannt geworden, die auch auf Twitter unter dem Hashtag "Aufschrei" geführt wurde. Ausgelöst hatte die Diskussion FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle mit Äußerungen über die Oberweite einer Journalistin. Und noch immer, einen Monat später, laufen auf der Internetseite alltagssexismus.de täglich bis zu 20 Berichte ein, in denen vor allem Frauen ihre negativen Erfahrungen schildern.

Nun ist dort auch der Name von Bundespräsident Joachim Gauck aufgetaucht. Unter dem Pseudonym "Schockierte Bundesbürgerin" schreibt eine Nutzerin: "Ich wünsche ihm, mal drei Monate lang als junge Frau nachts durch deutsche Städte laufen zu müssen. Viel Spaß!"

Gauck ist ein Freund der Freiheit und der geschliffenen Rede. Als Sexist oder Anhänger des Herrenwitzes ist er bisher noch nicht aufgefallen. Dennoch sind Frauenaktivistinnen wie die Netzfeministin Anne Wizorek, die die Twitter-Kampagne #Aufschrei startete, gerade ziemlich wütend auf ihn. Grund ist ein Interview mit Gauck im aktuellen Spiegel. Angesprochen auf die durch die Brüderle-Äußerung losgetretene Sexismus-Debatte spricht er von einem "Tugendfuror". Es gebe in der Frauenfrage noch einiges zu tun. Aber: "Eine besonders gravierende, flächendeckende Fehlhaltung von Männern gegenüber Frauen kann ich hierzulande nicht erkennen."

Mit dieser Äußerung hat er auf alltagssexismus.de aber auch auf Twitter kritische Kommentare provoziert. Jasna Lisha Strick, die die Internetseite mit betreut, schreibt:

Das ist nun passiert. Auf der Internetseite alltagssexismus.de/gauck wurde ein offener Brief an den Bundespräsident veröffentlicht. Unterzeichnet haben ihn bisher sieben Frauen, darunter Strick aber auch Anne Wizorek und Yasmina Banaszczuk, die den kritischen Blog Frau Dingens betreibt. Dazu kommen mehr als 700 Unterstützer.

Ihr Vorwurf: Gauck bagatellisiere mit der Verwendung des Wortes "Tugendfuror" die vielen Erfahrungsberichte von Frauen, die Opfer von Alltagssexismus werden. Der Begriff stehe in Verbindung mit dem Begriff Furie. Er werde "ähnlich wie 'Hysterie' abwertend verwendet, um die Wut von Frauen lächerlich zu machen und als Überemotionalität zu deklassieren." Der Brief schließt mit einem Zitat Gaucks: "Wir müssten gemeinsam darauf achten, dass wir Verantwortung wirklich ernst nehmen, dass wir uns korrigieren, wenn etwas nicht klappt." Dahinter der Hinweis: "Über eine Antwort freuen wir uns!"

Strick hat von Gaucks Interview über Twitter erfahren. "Da ging in mir erst mal ein Furor los", sagt sie Süddeutsche.de. Der Bundespräsident habe sich überhaupt nicht mit der Debatte auseinandergesetzt. Ein "priviligierter Mann wie Gauck" müsse das anscheinend auch nicht. "Das ist symptomatisch für die Debatte", sagt Strick. Doch besonders wütend mache sie, dass ein Bundespräsident, der immer wieder zu sozialem Engagement aufruft, die Arbeit der Aktivistinnen als solches nicht anzuerkennen scheint.

Bei Twitter schieben einige Nutzer die Äußerungen Gaucks auf sein Alter:

Der Bundespräsident ist 73, Rainer Brüderle 67. Die kritisierten Äußerungen der beiden Männer enthielten Begriffe aus scheinbar längst vergangener Zeit. Bei Gauck war es die "Tugend" und "Frauenfrage", bei dem FDP-Fraktionschef die "Tanzkarte". Doch das Argument, Sexismus sei lediglich ein Problem älterer Männer, will Strick nicht gelten lassen. "Das ist eine Frage der Denkweise, nicht der Generation", sagt die Studentin.

Von Gauck wünscht sie sich, dass er den Brief persönlich liest. Die Unterzeichnerinnen haben ihm dafür knapp anderthalb Tage Zeit gegeben. Bevor der Text online geht, haben sie ihn per Mail an das Bundespräsidialamt geschickt. Anne Wizorek, die in Berlin lebt, hat ihn zusätzlich persönlich an der Pforte abgegeben. Auf der eigens eingerichteten Seite zählt derweil eine Uhr die Stunden, Minuten, Sekunden bis zur Veröffentlichung.

Doch als der Text um punkt elf Uhr online zu lesen ist, hat Gauck den Brief noch nicht einmal in der Hand gehabt. Sie habe ihn gerade erst weitergegeben, sagt seine Pressesprecherin. Hoffnung auf eine Antwort macht sie den Feministinnen nicht: "Der Bundespräsident beantwortet grundsätzlich keine offenen Briefe. Das liegt jedoch nicht an Herrn Gauck, sondern an den Regeln, die mit seinem Amt einhergehen." Sie betont, dass die kritisierten Interviewpassagen sich speziell auf den Umgang der Medien mit dem Fall Brüderle beziehen würden. Gauck sei das Problem des Alltagssexismus durchaus bewusst, sagt sie. "Der Bundespräsident wird sich selbstverständlich während seiner Amtszeit weiterhin mit Geschlechtergerechtigkeit auseinandersetzen."

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