Sechstagekrieg 1967:Die Grenze des Helden Melzer

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Juni 1967: Israelische Panzer rücken auf der ägyptischen Halbinsel Sinai (Ägypten) vor. (Foto: dpa)

Vor 50 Jahren wird Yehuda Melzer im Sechstagekrieg zum Helden. Doch Israel zahlt für den Sieg einen hohen moralischen Preis - und Melzer wandelt sich vom Soldaten zum Besatzungskritiker.

Von Peter Münch, Tel Aviv

Er springt auf vom Sofa, ein Blick in die Ferne, rüber zum Feind - und dann zeigt Yehuda Melzer, wie er damals die Handgranate geworfen hat, die ihn zum Helden machte. "Vier Sekunden hast du", sagt er, als er den imaginären Zünder zieht. Dann holt er mit dem rechten Arm weit aus zum Werfen - "wie beim Baseball", erklärt er. Danach: "Ein Knall, und es war Ruhe."

77 Jahre ist Yehuda Melzer alt, Opa erzählt vom Krieg. 1967 kämpfte er an der Front in Jerusalem. Fallschirmjäger, 55. Brigade, das Kommando lag beim legendären Mordechai "Motta" Gur. Als Sechstagekrieg ist dieser Waffengang in die Weltgeschichte eingegangen. Es war ein Triumph für Israel, das auf einen Schlag zur regionalen Großmacht wurde.

Krieg im Nahen Ostenn 1967
:Der Sechstagekrieg in Bildern

Der Krieg von 1967 verändert die Landkarte des Nahen Ostens deutlich: Israel erobert von den arabischen Staaten sehr viel Territorium.

Und es war eine Niederlage für die arabischen Angreifer, von der sie sich bis heute nicht erholt haben. Genau fünfzig Jahre sind nun vergangen seit dem Sechstagekrieg, kurz und schmerzhaft tobte er vom 5. bis zum 10. Juni 1967. Doch "der siebte Tag", so hat es der israelische Historiker Dan Diner einmal formuliert, "hat noch nicht geendet".

Der Ausgang dieses Krieges prägt bis heute die Politik des Nahen Ostens. In jenen sechs Tagen hat Israel Gebiete erobert, die dreimal so groß waren wie sein Staatsgebiet: von Ägypten die Wüstenhalbinsel Sinai, die bald nach dem Friedensvertrag von 1978 zurückgegeben wurde, dazu den dicht von Palästinensern bevölkerten Gazastreifen, den es 2005 räumte.

Von Syrien übernahm Israel die Golanhöhen, die es 1981 annektierte; und von Jordanien das Westjordanland einschließlich des arabischen Ostteils von Jerusalem. Bis heute sind diese Gebiete besetzt, bis heute wird um die Gründung eines Palästinenser-Staats auf diesem Land gerungen.

Dieser Krieg hat vieles verändert im Nahen Osten und in der Welt, und er hat auch Yehuda Melzer verändert. Aus dem stolzen Soldaten von damals ist ein Friedenskämpfer geworden, ein "Refusenik", der den Armeedienst ablehnt, ein wütender Kritiker der Besatzung. "Der Krieg von 1967", sagt er, "war der Beginn der israelischen Verrücktheit."

"Soldat zu werden, das war fantastisch, keine Frage"

Melzers vom Sonnenlicht durchflutete Wohnung in Tel Aviv ist das Refugium eines Gelehrten. Bücher bis zur Decke, vergilbte Zeitungen ordentlich gestapelt, ein Schreibtisch im Wohnzimmer und einer im Arbeitszimmer. Man kennt ihn im Land als "Melzer, den Philosophen", der an den Universitäten in Jerusalem und in Tel Aviv gelehrt hat.

Und man kennt ihn als "Melzer, den Verleger", der in seinem kleinen, feinen Verlagshaus die "Harry Potter"-Bücher auf Hebräisch herausgibt und daneben Platon, Descartes und Kant. Er weiß, dass er zum "Außenseiter" geworden ist in diesem Land, aber daran hat er sich gewöhnt, notgedrungen.

1957 wurde er zum Wehrdienst eingezogen, direkt nach dem Schulabschluss. Die Staatsgründung und der Unabhängigkeitskrieg waren gerade mal neun Jahre her, der Suez-Krieg von 1956 lag ein Jahr zurück. "Da waren wir noch in der 12. Klasse und haben gedacht: Warum können die nicht warten, bis wir bei der Armee sind", erzählt er. "Soldat zu werden, das war fantastisch, keine Frage."

"Alles hat sich verändert. Es ist heute ein anderes Land": Yehuda Melzer. (Foto: Pini Hamou)

Nach dem Armeedienst blieb er Reservist, wie alle, denn nach dem Krieg ist in Israel immer auch vor dem Krieg. Als sich im Frühsommer 1967 die nächste Konfrontation mit den arabischen Nachbarn ankündigte, wurde aus dem angehenden Philosophie-Dozenten Melzer wieder der Fallschirmjäger Melzer.

In der Nähe von Jerusalem wurden sie zusammengezogen, und Melzer erinnert sich an die allumfassende "Unsicherheit" jener Tage, an die "furchtbare Angst". Der ägyptische Staatschef Gamal Abdel Nasser, der den Traum von der Führerschaft über die vereinte arabische Welt noch nicht aufgeben wollte, hatte über Wochen schon die Kriegstrommel gerührt. An Israels Grenze ließ er 1000 Panzer auffahren und 100 000 Soldaten aufmarschieren. Syrien und Jordanien forderte er auf, das Gleiche zu tun.

Dann sperrte er am 22. Mai 1967 die Straße von Tiran für israelische Schiffe und schnitt dem jüdischen Staat so den Zugang zum Roten Meer ab. Begleitet wurde das Ganze von bedrohlicher Rhetorik: "Unser grundlegendes Ziel ist die Vernichtung Israels", dröhnte Nasser. "Das arabische Volk will kämpfen."

Die Historiker sind bis heute uneins, ob Nasser nur bluffte oder wirklich den "totalen Krieg" wollte. Abba Eban, der damalige israelische Außenminister, sagte später einmal, "Nasser wollte einen Sieg ohne Krieg". Aber Israel sah sich auf jeden Fall in die Defensive gedrängt - und antwortete am Morgen des 5. Juni mit einem Präventivschlag.

Unter dem Radar drangen israelische Piloten in den ägyptischen Luftraum ein und zerstörten den Großteil von Nassers Luftwaffe am Boden. Das Gleiche geschah am selben Tag mit der syrischen Luftwaffe. Innerhalb weniger Stunden hatte sich Israel die komplette Lufthoheit gesichert. Auf dem Sinai begann unmittelbar danach die Bodenoffensive.

Israelische Soldaten am 7. Juni 1967 vor der Klagemauer in Jerusalem. (Foto: Getty Images)

Yehuda Melzer und seine Einheit waren eigentlich dafür vorgesehen, auf dem Sinai mit dem Fallschirm abzuspringen. "Wir hatten dafür Gasmasken bekommen, weil Nasser kurz zuvor im Jemen noch chemische Waffen eingesetzt hatte", erinnert er sich. "Aber dann ging alles sehr schnell und niemand brauchte uns dort."

Der Erfolg riss alle mit - und plötzlich ging es nicht mehr um den sandigen Sinai, sondern um die Befreiung Jerusalems. "Davon hatte vorher niemand geredet", sagt Melzer, "es war nicht Teil des Plans und auch nicht Teil des Traums."

Seit der Staatsgründung 1948 war die Stadt geteilt in einen israelischen Westteil und einen jordanischen Ostteil, in dem auch die Altstadt mit dem Tempelberg und der Klagemauer lag. Selbst der als Haudegen bekannte Verteidigungsminister Mosche Dajan zeigte zu Kriegsbeginn keinerlei Interesse an der Jerusalemer Front. "Was sollen wir mit diesem Vatikan", sagte er.

Die Religion sollte draußen bleiben aus diesem Konflikt, zumal Dajan befürchtete, dass eine Eroberung Jerusalems mit den heiligen christlichen und islamischen Stätten, wie Grabeskirche und Felsendom, nicht nur die muslimische, sondern auch die christliche Welt einschließlich der USA gegen Israel aufbringen könnte.

"So ein Schmock", sagt Melzer, "das war alles sehr unorganisiert."

Weggewischt wurde das von der Kriegsdynamik, und Yehuda Melzer kämpfte plötzlich mitten in Jerusalem. Sein Vorteil: Er kannte sich aus in der Stadt, weil er in seinen Studententagen dort frühmorgens Zeitungen ausgetragen hatte. "Die anderen kamen ja alle aus dem Kibbuz und hatten keine Ahnung", erinnert er sich.

Als sein Bataillon den Auftrag bekam, das Rockefeller-Museum nordöstlich der Altstadt zu erobern, fragte ihn sein Kommandant beim nächtlichen Vorrücken: Sind wir schon an der Klagemauer? "So ein Schmock", sagt Melzer, "das war alles sehr unorganisiert."

Am Rockefeller-Museum war es auch, wo er zum Helden wurde. Mit einer Handvoll Kameraden hatte er sich im Garten verschanzt, sie lagen unter schwerem Beschuss jordanischer Kräfte. Alle duckten sich, nur er sprang plötzlich auf, zog den Zünder, warf die Handgranate - "und es war Ruhe."

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Er selbst hat das anschließend niemandem erzählt außer seiner Familie. "Ich bin nicht stolz darauf, aber es ist ein Fakt", sagt er. Bekannt geworden ist es dann durch einen anderen aus seiner Einheit, durch den Sänger und Liedermacher Meir Ariel, den sie den "israelischen Bob Dylan" nennen: "Yehuda Melzer hat uns gerettet", hat Ariel später gern verkündet, "Melzer, der Philosoph."

Mut hat er also bewiesen, und an Patriotismus fehlt es ihm bis heute nicht. Doch was in diesen Junitagen geschah, erscheint ihm im Rückblick als ein Glück, das zum Verhängnis wurde. Während sein Bataillon das Rockefeller-Museum einnahm, rückten andere Truppen vor zur Klagemauer.

Der Fotograf David Rubinger schoss dort am 7. Juni ein Bild, das zur Ikone wurde: Es zeigt Mosche Dajan, den Mann mit der Augenklappe, und den damaligen Generalstabschef Jitzchak Rabin, umringt von Soldaten als Befreier des heiligsten Ortes des Judentums. "Wir haben das geteilte Jerusalem, die gespaltene Hauptstadt Israels, von Neuem vereint", sprach Dajan dann an der Klagemauer: "Wir sind zu unseren heiligen Stätten zurückgekehrt, um uns nie wieder von ihnen zu trennen."

"Das war der Moment, an dem der Mythos geschaffen wurde", sagt Yehuda Melzer. "Klar, es gab schon einige mit religiösen Gefühlen, aber die meisten Leute und auch die Soldaten dachten gar nicht daran."

Die Versuchung aber war wohl zu groß, diesen triumphalen Sieg in sechs Tagen noch einmal zu überhöhen: David hatte schließlich gegen Goliath gewonnen, der Erfolg wurde als Gottesgeschenk verstanden, und kaum einer wollte mehr auf den zögerlichen Premierminister Levi Eschkol hören, der gewarnt hatte: "Nichts wird durch einen militärischen Sieg gelöst werden. Die Araber werden dann immer noch da sein."

*seit 1994 teilweise unter palästinensischer Selbstverwaltung; SZ-Karte (Foto: SZ-Karte)

Dabei waren die eroberten Gebiete anfangs auch in Israel vor allem als Faustpfand verstanden worden. Direkt nach dem Krieg erklärte sich das israelische Kabinett bereit, alles mit Ausnahme Ost-Jerusalems zurückzugeben. Die Arabische Liga antwortet darauf im September 1967 mit einem dreifachen Nein: kein Frieden, keine Anerkennung, keine Verhandlungen mit Israel.

Am 22. November desselben Jahres forderte die UN-Resolution 242 von Israel den Rückzug "aus besetzten Gebieten". Doch dort begann dann schon bald der Bau von israelischen Wehrdörfern und Siedlungen. Gebaut wurden die Siedlungen sowohl von den Regierungen der linken Arbeitspartei als auch vom rechten Likud.

Heute gelten die mehr als 600 000 jüdischen Siedler, die inzwischen in Ost-Jerusalem oder im Westjordanland leben, als eines der größten Hindernisse auf dem Weg zum Frieden und zur Gründung eines Palästinenserstaats.

"Damals gab es viele Optionen", sagt Yehuda Melzer, "und die schlechteste wurde gewählt." Denn die seit einem halben Jahrhundert andauernde völkerrechtswidrige Besatzung hat ja nicht nur Folgen für die Palästinenser, deren Gebiet von Mauern durchschnitten und von Siedlungen zerstückelt wird, deren Recht auf Selbstbestimmung geleugnet und deren Staatsgründung verhindert wird.

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Die Veränderung kam schleichend. Es gab Zeiten der Hoffnung, wie nach den Osloer Verträgen von 1993. Es gab verpasste Chancen wie in Camp David im Sommer 2000. Aber es gab keine Zeit des Friedens. 1973 griffen die arabischen Staaten Israel wieder an, am Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag.

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Yehuda Melzer wurde wieder einberufen, er kämpfte in der Jerusalem-Brigade, und anschließend machte er noch Reservedienst im Jordantal. Im Libanonkrieg von 1982 aber, als die gesammelte Militärmacht Israels die Palästinenserguerilla der PLO angriff und das halbe Nachbarland besetzte, verweigerte er den Dienst: "Ich gehe nicht in diesen Krieg", erklärte er, als er schon an der Sammelstelle stand.

Mit anderen ehemaligen Soldaten gründete er eine Kriegsdienstverweigerer-Organisation namens "Jesch Gwul", wörtlich übersetzt: Es gibt eine Grenze - oder: Es reicht. "Die Leute haben uns als Verräter gesehen", sagt er. Dabei ist es ihm wichtig zu betonen, dass er nicht die Armee generell ablehnt, sondern die Armee als Instrument der Besatzung. "Ein Pazifist bin ich nicht", erklärt er, "es gibt doch keinen Weg, wie Israel ohne Militär überlebt."

Es ist eine ständige Zerreißprobe, zu der die Situation ihn und sein ganzes Land zwingt. Doch bei aller Kritik an der Besatzung - bitter will Yehuda Melzer niemals werden. "Ich liebe diesen Platz, und es gibt wunderbare Dinge in diesem Land", sagt er strahlend. "Solange es hier noch Menschen gibt, die Spinoza auf Hebräisch lesen und unsere Bücher kaufen, bin ich optimistisch."

Die Besatzung, da ist er sich nach einem Leben voller Kriege sicher, wird eines Tages enden: "Die Frage ist nur, wie lange das noch dauert und welches Desaster sie hinterlässt."

© SZ vom 03.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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