Ruanda:Im Zweifel für den Gejagten

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Der Ruander Enoch Ruhigira saß acht Monate lang in Frankfurt in Auslieferungshaft. Nun haben deutsche Behörden ihn freigelassen. Über das Misstrauen gegenüber einem Aufsteigerstaat.

Von Lena Kampf und Isabel Pfaff, München

Eigentlich wollen Enoch Ruhigira und seine Frau am Frankfurter Flughafen nur umsteigen. Doch die geplante Reise nach Paris fällt aus. Bei der Passkontrolle leuchtet auf dem Bildschirm der Bundespolizei ein Hinweis auf: Ruhigira werde von Ruanda wegen Völkermordes und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesucht. Er sei gewalttätig. Die Bundespolizisten führen den 66-Jährigen in Handschellen ab. Wenig später gratuliert die ruandische Polizei den deutschen Kollegen: "Wir danken für die Festnahme Ruhigiras, der sich seit 22 Jahren der Gerechtigkeit entzieht". Verschickt wurde die E-Mail von der Stelle, die weltweit nach den Verantwortlichen für den Völkermord in Ruanda jagt. Etwa 500 Personen stehen noch auf ihrer Liste.

Fast eine Million Menschen wurden 1994 in dem ostafrikanischen Land ermordet, drei Monate lang massakrierten radikale Hutu-Milizen Angehörige der Tutsi und moderate Hutu. Das massenhafte Töten war der Höhepunkt eines Bürgerkriegs zwischen Hutu und Tutsi, der 1990 in Ruanda begonnen hatte und eigentlich mit einem 1993 ausgehandelten Friedensvertrag zu Ende gehen sollte. Doch am 6. April 1994 wurde das Flugzeug abgeschossen, in dem der ruandische Präsident Juvénal Habyarimana, ein Hutu, saß. Am selben Tag begannen extremistische Hutu mit dem Morden, das sich in diesen Tagen zum 23. Mal jährt. Enoch Ruhigira, der seit mehr als 20 Jahren im Exil lebt und inzwischen einen neuseeländischen Pass besitzt, war 1994 Kabinettschef des ruandischen Präsidenten. Heute ist er Nummer 126 auf der Liste der gesuchten Génocidaires.

Ruhigira ist inzwischen wieder frei. Ende März, acht Monate nach seiner Festnahme, hat die Generalstaatsanwaltschaft den Haftbefehl zurückgenommen. Ruanda werde "diktatorisch regiert", hatte das Auswärtige Amt in einer Stellungnahme geschrieben, rechtsstaatliche Standards würden nicht eingehalten. Ein Auslieferungshindernis. Musste ein Unschuldiger also Monate lang in Haft sitzen - oder hat ausgerechnet die Bundesrepublik einen gesuchten Völkermörder laufen lassen?

Fast eine Million Menschen wurden 1994 in Ruanda ermordet. Im Memorial Center in Kigali sind ihre Fotos zu sehen. Am Donnerstag hat sich der Beginn des Völkermordes zum 23. Mal gejährt. (Foto: Dai Kurokawa/Epa)

Ruhigira, so behaupten es Ruandas Behörden, soll zwischen April und Juni 1994 Straßenblockaden in Ruanda organisiert haben, um flüchtende Tutsis aufzuhalten und zu töten. Außerdem habe er Macheten, das damals am häufigsten benutzte Mordwerkzeug, verteilt. So steht es in der Interpol-Fahndungsnotiz 2004/25001, einer sogenannten Red Notice, die 2004 auf Ersuchen Ruandas erstellt wurde.

Nur: Als die Bundespolizei Ruhigira auf dieser Basis im Juli 2016 festnimmt, hat Interpol die Fahndungsnotiz schon länger zurückgenommen. Bei einer internen Überprüfung hatte die Polizeiorganisation festgestellt, dass das Fahndungsersuchen gegen die Interpol-Richtlinien verstößt: Demnach müssen die Ersuchen möglichst vollständig und die Beweisgrundlage ausreichend sein. Daran hatte Interpol jedoch Zweifel. Unter anderem, weil man inzwischen die Ergebnisse früherer Ermittlungen gegen Ruhigira in Belgien und Neuseeland kannte: Beide Länder hatten die Ermittlungen eingestellt, weil sie keine Beweise für Ruhigiras Beteiligung am Völkermord gefunden hatten. Wie aus den Akten hervorgeht, war Ruhigira zum Zeitpunkt der ihm vorgeworfenen Taten nachweislich nicht mehr in Ruanda. Er hatte sich kurz nach Beginn des Mordens zum damaligen belgischen Botschafter geflüchtet, der ihn und seine Familie eine Woche später nach Kenia evakuierte.

Im Juli 2015 forderte Interpol seine Mitgliedstaaten deshalb auf, die Fahndung nach Ruhigira zu unterlassen. Doch diese dürfen frei entscheiden, ob sie sich an die Interpol-Vorgaben halten. Fast ein Jahr lang prüfen die deutschen Behörden, ob weiter nach Ruhigira gesucht werden darf. Das Auswärtige Amt meldet "keine Bedenken" dagegen an, so steht es in E-Mails der Behörden, die der Süddeutschen Zeitung vorliegen. Auch das Bundesamt für Justiz spricht sich für eine Fahndung aus. Eine Sachbearbeiterin dort setzt in einer E-Mail drei Ausrufezeichen hinter den Tatvorwurf: Völkermord. So bleibt das Fahndungsersuchen in Deutschland bestehen, wenig später landet Ruhigira in der JVA Frankfurt I.

Der Fall erinnert an die umstrittene Festnahme des ägyptischen Journalisten Ahmed Mansour im Juni 2015. Damals setzten sich die deutschen Behörden ebenfalls über eine Interpol-Warnung hinweg und nahmen den Mann fest. Im Nachhinein sprach die Bundesregierung von "organisatorischen Mängeln". Der Fall Ruhigira macht nun erneut klar, wie anfällig das System Interpols für Missbrauch ist - und wie Deutschland dadurch immer wieder zum Handlanger autoritärer Regime wird.

Enoch Ruhigira, 66, war bis 1994 Kabinettschef der ruandischen Regierung. Seit dem Genozid lebt er im Exil, er wird von Ruanda als Völkermörder verfolgt. Doch die Beweislage ist dünn. (Foto: oh)

Erst als die deutschen Behörden sich mit der Frage der Auslieferung Ruhigiras beschäftigen, ändert sich ihre Sicht: Das Auswärtige Amt spricht sich deutlich dagegen aus. Die Justizbehörden reagieren und lassen ihn Ende März frei.

Der Sinneswandel auf deutscher Seite steht für den schwierigen Balanceakt, an dem sich die Bundesregierung in puncto Ruanda versucht: Einerseits zählt Ruanda zu Deutschlands bevorzugten Partnern in einer höchst instabilen Region. Unter der Führung der RPF, jener Tutsi-Armee, die 1994 das Töten stoppte und danach als Partei die Regierungsgeschäfte übernahm, ist aus dem zerstörten Land ein straff organisierter Aufsteigerstaat geworden - ein Machtfaktor im östlichen Afrika. Zudem spielt im ruandisch-deutschen Verhältnis auch das schlechte Gewissen eine Rolle. Die internationale Gemeinschaft ließ den Völkermord 1994 einfach geschehen. Auch Deutschland reagierte nicht auf den Hilferuf der Vereinten Nationen. Die heutige Partnerschaft zwischen Berlin und Kigali ist auch diesem Versagen geschuldet.

Ruhigira sagt heute, der Genozid werde in Ruanda als politisches Instrument missbraucht

Andererseits nimmt die Kritik am autoritären Stil der ruandischen Regierung unter Präsident Paul Kagame zu. Auch wenn sich die Bundesregierung meist mit offener Kritik zurückhält: In Berlin weiß man um das repressive politische Klima in Ruanda. Gerade bei der Aufarbeitung des Völkermords zeigt sich, dass die Regierung in Kigali neben ihrer eigenen Version der Ereignisse keine anderen Lesarten zulässt.

Deutlich wird das im Umgang mit Personen wie Enoch Ruhigira. Als letzter Kabinettschef vor dem Genozid ist er auch Zeuge einer Frage, über die sich Historiker bis heute streiten: Entstand der Völkermord spontan im Chaos nach dem Abschuss der Präsidentenmaschine oder war er lang geplantes Staatsziel unter Präsident Habyarimana? Dass die systematische Vernichtung der Tutsi lange vorbereitet war, ist das Narrativ der Regierung Kagame. Ruhigira stellt diese Sichtweise in Frage. Er hätte als Kabinettschef wohl in solche Pläne eingeweiht sein müssen. Doch er behauptet, davon nichts gewusst zu haben. Im Exil hat er ein Buch geschrieben über die Zeit vor dem Genozid. Darin betont er, dass vor dem Tod von Habyarimana alles bereit gewesen sei für eine Übergangsregierung, für Frieden zwischen Hutu und Tutsi.

Ruhigira sagt heute, der Genozid werde in Ruanda als politisches Instrument missbraucht. Das sah letztlich auch das Auswärtige Amt so. Es bestehe die "konkrete Gefahr, dass der Prozess in Ruanda gegen ihn politisch beeinflusst werden könnte", schrieb das Ministerium in der Stellungnahme, die am Ende zur Freilassung führte. Nach acht Monaten Gefängnis ist Ruhigira inzwischen wieder in Neuseeland. Die ruandische Stelle, die weltweit nach Völkermördern sucht, hat auf seine Freilassung bisher nicht reagiert.

© SZ vom 07.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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