Proteste gegen Homo-Ehe:Wütend auf die individualisierte Welt

Viele Franzosen protestieren gegen die Homo-Ehe und sind angetrieben von einer Wut auf die individualisierte Welt

Auf den Straßen herrscht Demonstrationsfreiheit, doch die Gesetze werden im Parlament gemacht.

(Foto: Getty Images)

In Frankreich wütet ein Aufstand der Massen gegen die Homo-Ehe. Doch die Regelung allein kann die Wucht nicht erklären. Viele protestieren gegen eine Welt, von der sie glauben, sie sei ultra-individualistisch, konsumbesessen und der Macht des Geldes verfallen.

Ein Kommentar von Stefan Ulrich, Paris

Noch in diesem Monat wird in Paris eine Messe für Hochzeiten von Homosexuellen eröffnet. Bald darauf werden die ersten schwulen und lesbischen Paare in den französischen Rathäusern getraut. Die regierenden Sozialisten setzen sich durch, Frankreich führt die "Ehe für alle" ein. Präsident François Hollande hat den Machtkampf gegen eine Massenbewegung auf den Straßen gewonnen.

Doch zu welchem Preis. Hollande ist vor einem Jahr mit dem Versprechen angetreten, die Franzosen zu versöhnen und Frankreich zu befrieden. Stattdessen ist das Land aufgewühlter und friedloser als zuvor. Die "Ehe für alle" ist zu einem Katalysator geworden, der die Gärungsprozesse beschleunigt. Hunderttausende Bürger, unter ihnen viele junge, nahmen die Homo-Ehe zum Anlass, ihrem Furor über die Regierung und die Entwicklung der Gesellschaft Luft zu machen. Und sie wollen weiter protestieren, auch wenn das Gesetz in Kraft ist.

Die konservative Oppositionspartei UMP läuft der Bewegung hinterher. Zugleich radikalisiert sich der Protest. Am Dienstag mussten Hunderte Polizisten die Volksvertreter in der Nationalversammlung vor einem wütenden Volk schützen.

Mahatma Ghandi und die Tea Party

Mit der Homo-Ehe allein lässt sich die Wucht dieses Aufstands nicht erklären. Gewiss, die "Ehe für alle" und das darin enthaltene Adoptionsrecht für homosexuelle Paare sind Reizthemen. Nur: Hollande hat im Wahlkampf die Homo-Ehe klar versprochen. Eine Mehrheit der Franzosen hat ihn gewählt. Nun wurde die "Ehe für alle" vom Parlament beschlossen. Der demokratische Rechtsstaat hat entschieden. Das sollten die Gegner des Gesetzes akzeptieren.

Stattdessen versuchen einige Organisatoren der Proteste, die parlamentarische Opposition und deren Parteien durch die Wut vieler Bürger auf den Straßen und im Internet zu ersetzen. Längst geht es ihnen nicht mehr nur um die Homo-Ehe, sondern um die Delegitimierung von Präsident und Parlament. Sie berufen sich auf 1968, auf Mahatma Gandhi oder die amerikanische Tea Party, um die repräsentative Demokratie herauszufordern. So werden die Proteste zur Demonstration und zum Verstärker einer Systemkrise.

Weder die Sozialisten noch die UMP scheinen mehr in der Lage zu sein, die Erwartungen, Hoffnungen und Ängste der Franzosen aufzunehmen, auszudrücken und in Gesetze und Regierungshandeln umzusetzen. Dies frustriert viele Bürger, die von den Umbrüchen und Krisen der Globalisierung ohnehin verstört sind. Auffallend viele Gegner der Homo-Ehe sagen, ihr Protest richte sich allgemein gegen eine Welt, von der sie glauben, sie sei ultra-individualistisch, konsumbesessen und der Macht des Geldes verfallen.

Gesetze werden im Parlament gemacht

Niemand kann heute zuverlässig voraussagen, wohin diese außerparlamentarische Opposition in Frankreich führt. Ähnliche Phänomene im Ausland sind nicht immer ermutigend. So hat die Tea-Party-Bewegung dazu beigetragen, die Vereinigten Staaten in ideologisch aufgeheizte, sich gegenseitig lähmende Lager zu spalten.

In Italien führt die Bewegung des autoritären Volkstribunen Beppe Grillo bislang nicht zur Vitalisierung, sondern zur Blockade der Politik. Grillo versucht "seinen" Abgeordneten vorzuschreiben, ob sie in Talkshows gehen oder mit Journalisten sprechen. Eine Erneuerung der Demokratie hätte man sich anders vorgestellt.

Protestbewegungen können verkrustete Strukturen aufbrechen und Politiker zwingen, auf die Bürger zu hören. Sie können aber auch ins Fundamentalistische ausarten. Dann gefährden sie die repräsentativen Demokratien, mit denen die Europäer gut gefahren sind. Die neue französische Apo sollte dies bedenken und den Grundsatz akzeptieren: Auf den Straßen herrscht Demonstrationsfreiheit, doch die Gesetze werden im Parlament gemacht.

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