Sie steht da wie ein Halbstarker, der auf dem Rummel beim Autoscooter sein Revier verteidigt. Breitbeinig, Hand in der Hosentasche, Feinripp unterm aufgeknöpften Hemd, dazu ein Blick, der so selbstsicher ist, dass ein Flirt ganz ohne Lächeln auskommt. Ihr Revier ist allerdings deutlich größer als die Fahrfläche von ein paar Elektroautos: 27. Oktober Los Angeles, 31. Oktober New York, 20. November London, 18. Dezember Paris. Auf den Plakaten, die schon jetzt in ganz Paris für die kommende Tournee von Héloïse Letissier werben, stehen nur vier der mehr als 30 geplanten Konzerte. Doch diese vier Orte sagen ohnehin alles: Sie ist zurück - und die Welt hat auf sie gewartet.
Es ist schon frech. Da wird jemand aus Frankreich zum internationalen Star und ignoriert einfach den deutschen Markt. Der Soundtrack der fabelhaften Amélie dominiert seit mehr als einem Jahrzehnt die CD-Player der Studentencafés von Freiburg bis Osnabrück, und auch Carla Bruni haucht noch regelmäßig aus dem Autoradio. Doch die eine wirklich spannende Popsensation, die Frankreich aktuell zu bieten hat, und die ohne Akkordeon und ohne Pling-Pling-Gitarre auskommt, geht lieber in Brooklyn auf die Bühne als in Hamburg oder München.
Letissier bringt 2014 unter ihrem Künstlernamen Christine and the Queens ihr erstes Album heraus. Pop mit französischen Texten und amerikanischem Funk. In den dazugehörigen Musikvideos tanzt Letissier in Männeranzügen so, als hätten sich Pina Bausch und Michael Jackson gemeinsam eine Choreografie ausgedacht. Bei ihren Konzerten steht sie gerne mit geflextem Bizeps auf der Bühne, wie Popeye nach einer Dose Spinat. 2016 hebt das Time Magazine sie auf den Titel einer Ausgabe zu "Menschen, die die Welt verändern werden", und die französische Ausgabe der Vanity Fair wählt sie zur einflussreichsten Französin der Welt. Gerade einmal 28 Jahre ist Letissier damals alt, und ihr wird schon alles zugetraut.
Im Herbst soll nun das zweite Album kommen. Der Name ist inzwischen kürzer geworden, die Haare auch. Chris will sie inzwischen nur noch genannt werden, und es ist kein Zufall, dass das ein Name ist, der nicht eindeutig festlegt, ob man mit einer Frau oder einem Mann spricht. Letissier erzählt gerne, dass sie ihre Karriere einer Gruppe Londoner Dragqueens zu verdanken hat, die ihr geholfen haben, ihren musikalischen Weg zu finden. Und zu diesem Weg gehört es, keinem Klischee eines weiblichen Popstars zu entsprechen. Sie ist sexy, ohne dass es jemals um ihre Brüste oder ihren Hintern ginge. Die erotische Spannung ihrer Auftritte und Videos entsteht durch die enorme Energie, mit der sie sich vollständig in ihre Lieder wirft. Schon bevor Letissier anfing, sich wie ein Macho im Unterhemd zu inszenieren, war ihr Look androgyn. Meistens trat sie in Anzugjacke auf und in Schuhen, die vor allen Dingen dazu da waren, sie sicher auf dem Boden zu halten. Michael Jackson hätte in High Heels schließlich auch keinen Moonwalk hinbekommen.
Es dauerte nicht lange, bis darüber spekuliert wurde, mit wem die Sängerin wohl lieber herumknutscht, mit Männern oder Frauen. Sie sei da nicht sonderlich festgelegt, stellte sie lässig fest und brachte ihren Interviewern das Wort pansexuell bei. In einem ihrer großen Hits, dem Song "iT", singt sie im Refrain: "I am a man now." Ich bin jetzt ein Mann. Und ja, sie singt das auf Englisch. Ihre neue Single "Girlfriend" hat sie direkt in zwei Versionen herausgebracht. Einmal französisch, einmal englisch. Franzosen können keine Fremdsprachen? Ein weiteres Klischee, mit dem Letissier aufräumt.
In dieser Woche stellte sie "Girlfriend" in der "Tonight Show" von Jimmy Fallon vor. Während Carla Bruni noch mit zarter Stimme darüber sinnierte, ob "er sie noch liebt", singt Letissier, dass sie nichts dagegen habe, ein Lover zu sein, aber eine Beziehung müsse es ja nun nicht gleich sein. Die Zeiten der verträumten Musen sind vorbei.