Profil:Andris Nelsons

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Leipzigs neuer Gewandhauskapellmeister ist antielitär und beliebt.

Von Reinhard J. Brembeck

Erst ein Blumenstrauß vom Orchester, dann einer vom Management. Dirigent Andris Nelsons hält beide beim Schlussapplaus im Leipziger Gewandhaus so hoch, dass sein Gesicht hinter Blumen verschwindet. Aber dieses Gesicht kennt in Leipzig sowieso jeder. Überall in der Stadt hängen Plakate mit seinem Konterfei: Nelsons' Lachen, die visionär gehobene Rechte, die mit dem Stab nach unten alle Einwände wegwischende Linke, das kimonoartige schwarze Hemd, sein mitreißender Charme. Kein Tyrann, kein abgehobener Visionär, so sieht ein Chef von heute aus. Unter dem Schwarz-Weiß-Bild auf dem Plakat steht groß und rot: Andris. Im Kleingedruckten liest man "Leipzigs 21. Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons". Da dokumentiert sich der nüchterne Stolz einer Kaufmannsstadt, die Kunst immer als zentralen Standortfaktor begriffen hat.

Nelsons stammt aus Riga, er wird im Herbst 40 Jahre alt und ist der Chef zweier der besten Orchester der Welt. Die Sinfoniker in Boston leitet er schon seit vier Jahren, beim Gewandhausorchester gab er jetzt sein erstes Konzert als Leiter. Nelsons wurde als Trompeter, Pianist und Sänger ausgebildet, er war Dirigent in Riga, Herford und Birmingham. Vor acht Jahren debütierte er bei den Bayreuther Festspielen, vor zwei Jahren sollte er dort die Premiere des "Parsifal" leiten. Daraus wurde nichts. Anscheinend weil der im persönlichen Umgang schwierige, aber in Bayreuth allmächtige Dirigent Christian Thielemann sich etwas unglücklich in die Proben einmischte. Derzeit ist offen, ob Nelsons in zwei Jahren den neuen Bayreuther "Ring" dirigieren wird. Für Festivalchefin Katharina Wagner wäre es ein Fiasko, wenn Nelsons ihr auch dieses Engagement zurückgäbe.

Allein der sechs Jahre ältere und ähnlich charismatische Kirill Petrenko hat eine ähnlich rasante Karriere an die Weltspitze gemacht wie Nelsons. Beide sind sie das Gegenteil der aus der Mode gekommenen diktatorischen Pultvirtuosen. Nicht die dämonische Show steht bei ihnen im Zentrum, sondern die partnerschaftliche Musikhandwerkerei, die der altmodische Titel "Kapellmeister" meint. Nelsons wie Petrenko würden im Frack komisch wirken, sie haben immer die Partitur vor der Nase. Deren Text ist ihnen Leitfaden, nicht aber die oft aus einer entstellenden Aufführungstradition gespeiste Inspiration, die einst Furtwängler und Karajan beseelte und die man heute noch bei Thielemann beobachten kann.

Petrenko ist ein Perfektionist, der zu hemmungsloseren Gefühlsentladungen fähig ist als jeder andere Musiker dieser Galaxie. Nelsons agiert verträumter, weicher, visionärer, ungreifbarer. Gern fasst er zu Beginn mit der Linken nach hinten an die Balustrade, die den Sturz des Dirigenten vom Podium verhindert. Dann beugt er seinen großen Knuddelbärenkörper zu den Musikern, seine Spannung überträgt sich auf Musiker wie Zuhörer. Diese Haltung suggeriert Schutz, Unaufdringlichkeit, Kompetenz, Freundlichkeit. Und schon geht es ganz tief in die Musik hinein.

Nelsons' größte Stärke ist, dass er Kompositionen nie als abstrakte Formen präsentiert, sondern als organisch lebendige Gebilde, deren Aussage und Erzählung selbst dem musikfernsten Hörer einleuchten. So entfernt Nelsons alle Hürden zwischen der elitären Klassik und den heutigen Menschen. Er ist der demokratischste unter den Dirigenten. Das erklärt, warum er so begehrt und so beliebt ist. Zudem zieht er das Publikum nie mit dampfender Leidenschaft über den Tisch. Viel lieber gibt er den Mediator, der wie ein Märchenprinz eine lang schon schlafende Partitur wachküsst und sie dem Heute zuführt. Das alles hat nichts Spektakuläres, nichts Reißerisches, nichts Sensationelles. Nelsons' Musizieren wirkt untergründig, aber dann lange nach. Kein Wunder, dass so einer sein Ego ohne Gesichtsverlust hinter Blumensträußen verstecken kann.

© SZ vom 24.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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