Profil:Aimée Mullins

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(Foto: Evan Agostini/Invision/AP)

Die Sportlerin ist schneller als viele andere - obwohl oder weil ihre Beine Prothesen sind.

Von Kathrin Werner

Aimée Mullins stolziert über die Bühne. Sie humpelt nicht, sie schwankt nicht. Sie setzt sich, schlanke Beine übereinandergeschlagen, etwas Haut schaut hervor zwischen Schuhen und Hose. Doch was man sieht, sind keine Beine, sondern Prothesen aus Silikon. Selbst von Nahem sehen sie aus wie Menschenbeine aus Fleisch und Blut, sie zählen zu den modernsten Prothesen der Welt.

Um Normalität geht es Mullins allerdings nicht. "Mir geht es prima damit, nicht normal zu sein", sagt sie. "Ich gehe weit über das Normale hinaus." Für ihren Auftritt auf der Digitalkonferenz South by Southwest in Austin in Texas hat sich Mullins für das unsichtbare Modell entschieden. Sie könnte auch die mit Weinranken filigran verzierten Holzbeine tragen, die der Modedesigner Alexander McQueen für sie handgeschnitzt hat. Oder die gebogenen Prothesen aus Karbon, gestaltet für sie nach dem Vorbild von Geparden. Damit brach sie einst den Weltrekord, jetzt sind sie Standard für amputierte Hochleistungssportler. Oder die bionischen Beine, die sie mit Robotermotoren beim Joggen durch den New Yorker Central Park antreiben. Sie kann aussuchen, ob sie 1,72 oder 1,86 Meter groß sein will und wie schlank ihre Waden wirken sollen. Ihre Großmutter scherzt gern, dass ihr Erbgut solche eleganten Knöchel nicht für sie vorgesehen hatte.

Mullins ist Sportlerin, Topmodel, Schauspielerin, Aushängeschild moderner Prothesentechnik und Vorbild von Menschen, die mit dem Wort "Behinderung" nichts zu tun haben wollen. Früher, erzählt sie, habe sie oft Mitleid bekommen. Heute erntet sie Neid. Wer mit ihr über Prothesen spricht, redet nicht mehr über Behinderung, sondern über Potenzial. Können wir irgendwann über Häuser springen, schneller rennen als Geparden, fliegen? Wie schnell, wie flexibel, wie gut kann der Mensch sein? "Ich will Träume, Fantasie und Gedanken anregen", sagt die 42-jährige Amerikanerin.

Ihre Welt war nicht immer so voller Chancen. Mullins zeigt ein Foto von sich vor, wie sie mit Topffrisur und klobigen Prothesen neben dem Sandkasten hockt, etwa fünf Jahre alt, Beine aus einem Holz-Plastikgemisch, festgeschnürt mit Leder und Metall. Sie ist mit fibularer Hemimelie zur Welt gekommen, unterentwickelten Wadenbeinen und verkrümmten Füßen. Als sie ein Jahr alt war, entschieden die Ärzte, sie zu amputieren. Sie weiß nicht, wie sich Sand oder Kies unter den Füßen anfühlen. "All das erledigt nur meine Vorstellungskraft." Sie hat mit Prothesen laufen gelernt und später rennen. Im Fernsehen sah sie "Star Trek" und die "Terminator"-Filme und wie gut diese Fantasie-Androiden laufen konnten, viel besser als sie. In der dritten Klasse malte sie Bilder von Beinen mit Raketenantrieb an den Füßen. "Ich wollte die schnellste Frau der Welt werden", sagt sie. "Aber mit den Prothesen war es wie Rennen mit Skistiefeln." Jedes Gespräch mit Ärzten und Prothesentechnikern drehte sich um Dinge, die sie niemals würde machen können.

Dann war sie zu Besuch bei Madame Tussauds in London, sah die lebensechten Wachsfiguren und erkannte: "Vielleicht habe ich mich bislang mit den falschen Leuten unterhalten." Danach hat sie Briefe geschrieben an Menschen, die bislang keine Prothesen gestaltet hatten und keine festen Vorstellungen hatten, welche Beeinträchtigungen mit ihnen verbunden sind. Und siehe da: Sie bekam bessere Beine, konnte Softball spielen, Ski fahren. Später war sie die erste Frau, die in der Leichtathletik mit Prothesen in der amerikanischen College-Liga NCAA antrat, gegen Sportler mit "normalen" Körpern. Sie fuhr zu den Paralympics und gewann. Sie wurde Alexander McQueens Muse, lief über Laufstege, zierte die Titelbilder der wichtigsten Magazine. Sie wechselt ihre Beine, wie es ihr gefällt. Wenn sie mit ihren Roboterprothesen joggt, kann niemand mithalten. "Fair ist das nicht - und das ist genau die Art Fairness, die mir gefällt."

© SZ vom 14.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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