Ostdeutschland:Im Wunderland, vielleicht

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"Tag der Sachsen", wie passend, ausgerechnet jetzt: eine Szene von der Eröffnungsfeier in Wurzen bei Leipzig. (Foto: Jan Woitas/dpa)

Stimmungswandel? Firmen sammeln Geld, Platznot im Spendenlager und ein Ministerpräsident könnte weinen vor Freude.

Von Cornelius Pollmer

Auf die Stadt Wurzen kann sich wirklich jeder einen kleinen Reim machen, nur wird er dabei kaum die Qualität von Joachim Ringelnatz erreichen. Der Schriftsteller Ringelnatz wurde in Wurzen geboren, sein Geist ist dort gegenwärtig, und am Samstag begegnet er in Gestalt eines Besens dem sächsischen Ministerpräsidenten.

Stanislaw Tillich ist zum Tag der Sachsen gekommen, einer üblicherweise schunkeligen Heimatkirmes für Bratwurstbeißer und Beutelsachsen. Dieses Jahr aber ist kein übliches, es ist eines, in dem Sachsen eher taumelt als schunkelt - wegen Freital, wegen Meißen, wegen Heidenau. Wie lässt sich Heimat feiern, wenn sie zuletzt vor allem Kummer machte?

Sachsens Regierungschef Tillich geht nun vergleichsweise entschieden voran

Vor dem Tag der Sachsen gaben Tillich und der Landtagspräsident eine gemeinsame Erklärung heraus, sie ist in Wurzen an mehreren Stellen als großkopierte Staffelei wiederzufinden. Überschrift: "In unserer Heimat darf es keinen Platz für Rassismus und Gewalt geben." Tillich geht in dieser Frage seit ein paar Wochen vergleichsweise entschieden voran, wobei vergleichsweise zum einen bedeutet, dass er das früher nicht tat, und zum anderen, dass seine Partei ihm dabei nicht geschlossen folgt. Bei der jüngsten Sitzung des Landtages wurden CDU-Abgeordnete gehört und gesichtet, die lieber bei den Redebeiträgen der AfD klatschten. Der Fraktionsvorsitzende der CDU setzte einen etwas wirren Vortrag über das Verhältnis des Islam zum Schweinefleisch an den Beginn seiner Rede. Und Tillich? Steht also am Samstag in der Ringelnatz-Galerie von Professor Ziska und begegnet dem Besen.

Jochen Ziska hat dem Ministerpräsidenten gerade gedankt für seine Linie gegen Hass und Hartherzigkeit. Dann verweist er auf das Gedicht "Auskehr", in dem von verbrauchten Besen die gereimte Rede ist, die "mummgedachte dummgemachte Menschen" für ihre Zwecke zu instrumentalisieren versuchen. Weiter im Text: "Und da fand man in den Stielen Knuten / Aus der mittelalterlichen Zeit. / Und wir anderen müssen uns nun sputen, / Denn die Besen stehen kampfbereit."

Nachdem über Wochen aus dem Osten Deutschlands vor allem Übles in Wort und Tat zu vermelden war, lässt sich dieser Tage beobachten, dass das Sputen vielerorts begonnen hat. Tillich begegnet in Wurzen ja nicht nur dem Professor, er begegnet auch Tim Hartmann, dem Chef eines regionalen Energieversorgers, der erst sagt, er nehme beim Thema Asyl "bei uns in der Kantine ganz unterschiedliche Meinungen mit". Hartmann fügt an, dass sein Unternehmen einen Fonds aufgesetzt habe, der Sportvereine aus der Region unterstütze, die Geflüchtete integrierten. Als Stanislaw Tillich später auf einer Bühne an einem Marktplatz seinen Appell wiederholt, kräht davor nur ein Politiker der NPD. Nur eine Seitenstraße entfernt trifft gerade Martin Dulig am Stand seiner SPD ein. Der Landeschef ist Tillichs Stellvertreter und er steht gewiss nicht unter dem Verdacht, die Schwierigkeiten Sachsens mit Rechtsextremismus wegreden zu wollen. Und doch hört auch Dulig in diesen Tagen gute Signale aus dem Volk, etwa aus Leipzig. Knapp eine Woche nach ihrer Eröffnung vermeldete die zentrale Spendenannahme dort Platznot. Eine zweite Sammelstelle soll Mitte September öffnen.

Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow hielt spendenbereit ein Spielzeugauto in Händen, als am Samstagabend um 20.49 Uhr ein Zug mit 569 Geflüchteten auf Gleis 2 des Bahnhofes in Saalfeld einfuhr. Dorthin waren Menschen aus der Stadt gekommen, aber auch aus Jena und Gera, aus Greiz, Ilmenau und Arnstadt. Menschen aus dem ganzen Bundesland. Vor Jahren hätten Rechtsextreme versucht, Saalfeld "mit erhobenem Arm" zu kontrollieren, sagte Ramelow. Noch im Mai war es zu Ausschreitungen bei einer Demonstration Rechtsextremer gekommen. An diesem Samstag blieb es nicht nur friedlich - Ramelow sagte, es sei so schön, dass er weinen könnte vor Freude.

Freiwillige Helfer packten den Tag über fast 600 Willkommenspakete mit dem Nötigsten für die ersten Stunden; eine Notunterkunft für ebenfalls 600 Geflüchtete wurde zügig eingerichtet. Nach der Registrierung der Geflüchteten fuhren sieben Busse noch in der Nacht nach Dresden, weitere nach Halberstadt in Sachsen-Anhalt.

Der erste Bus mit vor allem aus Syrien stammenden Geflüchteten erreichte am Sonntagmorgen um 2 Uhr die sächsische Landeshauptstadt, der letzte nach 4 Uhr. In Summe waren es 269 Personen, die in Dresden ankamen. In Halberstadt waren es 150 Menschen, Ministerpräsident Reiner Haseloff besuchte sie am Sonntag.

Wegen der unerwarteten Ankünfte forciert die Politik zudem die Suche nach geeigneten Unterkünften. Thüringens Migrationsminister Dieter Lauinger bat die Öffentlichkeit, alle leer stehenden Gebäude, in denen mindestens 100 Menschen untergebracht werden könnten, zu melden und anzubieten. Dafür sei ein Onlineformular auf der Homepage des Landes eingestellt worden. In Objekten der Bundeswehr könnten zunächst etwa 400 Geflüchtete mehr als bislang untergebracht werden, sagte Lauinger.

Bleibt das alles so freundlich? Manche äußern die Sorge vor Gegenreaktionen

Die Nachrichten vom Wochenende führen teilweise auch zu Skepsis. In Online-Netzwerken ist von der Sorge zu lesen, auf die Ankunft so vieler Geflüchteter könnten Gegenreaktionen folgen. Und ein paar zarte Eindrücke aus Leipzig, aus Saalfeld und vom Tag der Sachsen lassen eben keine Prognose für die kommenden Wochen zu.

Das Motto, unter dem das Fest in Wurzen stand, klingt trotzdem wie eine Möglichkeit der Zukunft. Es lautete: "Im Wunderland".

© SZ vom 07.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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