Organisierte Kriminalität:Nach Deutschland gelockt und zum Stehlen gezwungen

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Am Rand der Stadt, am Rand von allem. (Foto: K. Ludwig)

Litauische Banden rekrutieren arbeitslose Jugendliche mit falschen Versprechen. Das zeigen Recherchen von SZ und WDR. Wenn die Diebe aussteigen wollen, droht ihnen Schlimmes - auch ihren Familien.

Als Ermittler im Oktober Diebe festnehmen, die in ganz Deutschland Autos aufgebrochen und Navigationsgeräte gestohlen haben, stoßen sie auf brutale Bilder: Zu sehen sind zwei junge Männer. Einer von ihnen gefesselt und geknebelt auf einem Stuhl, der andere liegt auf dem Boden, mit dem Kopf in einer Pfütze Blut. Sie gehörten zu einer litauischen Bande. Es stellt sich heraus: der Jugendliche in der Blutlache ist erst 17 Jahre alt.

Der junge Mann auf dem Foto ist Täter und Opfer zugleich. Weil er gestohlen hat, wurde er vom Essener Landgericht zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Doch das ist nur der eine Teil seiner Geschichte. Bei den Ermittlungen wurde deutlich, dass Hinweise auf Menschenhandel vorliegen. "Nach den Durchsuchungsmaßnahmen in Deutschland und Litauen haben wir Chatverkehr und Telefongespräche gehabt, aus denen klar hervorgeht, dass sie richtig massiv geschlagen worden sind, ins Gesicht, also mit der Faust und teilweise mit Tritten", sagt Kriminalhauptkommissar Markus H..

Bald werden sich Justiz, Polizei und Hilfsorganisationen mit neuen Opfern von Menschenhandel beschäftigen müssen. In diesem Sommer tritt ein Gesetz in Kraft, das unter Strafe stellt, andere Menschen zu Straftaten zu zwingen. Recherchen von Süddeutscher Zeitung und WDR zeigen, dass litauische Banden systematisch arbeitslose Jugendliche mit falschen Versprechungen nach Deutschland locken, damit sie hier Diebstähle begehen. Wenn die Jugendlichen aussteigen wollen, werden sie bedroht, geschlagen und erpresst. Ermittler sprechen von einem System von Gewalt, das sie so bislang nicht kannten. Das Bundeskriminalamt geht von einem "großen Dunkelfeld" aus. Schon heute ließen Informationen aus EU-Nachbarstaaten vermuten, dass in Deutschland erzwungene "Diebstahl- und Betrugsdelikte eine besondere Rolle spielen werden". Eine überwiegende Zahl der Opfer werde demnach aus Ost- und Südeuropa kommen.

Aus Ermittlungsakten zur litauischen Bande in Essen geht hervor, dass auch die Familien der Opfer bedroht wurden. "Ein Auto ist auf den Hof gekommen, jemand ist ausgestiegen und steht draußen", schrieb die Mutter dem Siebzehnjährigen per SMS: "Das ist kein Spaß."

"Minderjährige aus dysfunktionalen Familien"

Die Recherchen von SZ und WDR zeigen, wie die Familien der Jugendlichen bedroht wurden und wie ihnen hohe Schulden angelastet werden, wenn sie aus der Bande aussteigen wollen. Einen Ausweg gibt es höchstens, wenn die Opfer Geld besorgen und der Bande einen Nachfolger liefern. Das Caritas Hilfswerk in Litauen spricht von einem "rasanten Anstieg" dieser Fälle. Die Organisation betreue mittlerweile über 30 Fälle im Jahr. In ihrem aktuellen Menschenhandelsreport berichtet auch die Europäische Kommission, dass die Zahlen bei Kindern in Dänemark, Schweden, Litauen und der Slowakischen Republik steigen.

Die Banden werben Jugendliche in Wohngegenden an, in denen Arbeitslosigkeit besonders hoch ist, sagt auch ein litauischer Ermittler: "Das sind vor allem Minderjährige aus dysfunktionalen Familien."

Einer von ihnen ist Darius Laugall, der 17-jährige Junge vom Foto, der in einer Blutlache lag. Er stammt aus einer Siedlung in der litauischen Stadt Kaunas, seine Familie lebt in einem Backsteinhaus, jeder Mieter hat ein paar Quadratmeter, sie teilen Toilette und Gemüsegarten. Als er 16 Jahre alt war, machte er seine ersten Schulden. Vor seiner ersten Fahrt nach Deutschland erzählte er seiner Mutter noch, er mache Urlaub auf dem Land. Doch dann bekam sie Fotos zugeschickt, die eine andere Geschichte erzählen - und entschloss sich, nicht zu schweigen.

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Diebstahlbanden aus Litauen brechen deutsche Autos auf. Doch die Täter stehlen nicht immer freiwillig. Unter ihnen sind Opfer von Menschenhändlern.

Von Denise Friese und Kristiana Ludwig

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