Onna in den Abruzzen:Dorf des Schmerzes

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Onna wurde bei dem Erdbeben in Italien fast vollständig zerstört, jetzt wird der Ort wieder aufgebaut - mit deutscher Hilfe: Das von Wehrmachtssoldaten verübte Massaker in Onna ist nicht vergessen.

J. Müller-Meiningen, Onna

Links liegen die Ruinen, rechts steht das Zeltlager und in der Mitte liegt die Zukunft. "Nein, das ist nur provisorisch", sagt Franco Papola, der so braungebrannt ist, als habe er sich vier Wochen lang am Mittelmeer gesonnt. In der Mitte zwischen dem, was vom Dorf Onna nach dem Erdbeben vom April übrig geblieben ist und dem Meer von blauen Zelten, in denen die gut 200 Bewohner des Dorfes hausen, da haben Bauarbeiter flüssigen Beton zu stabilen Fundamenten für die Holzhäuser gegossen.

Fast jedes Haus in Onna wurde beim Erdbeben am 6. April zerstört oder stark beschädigt, 41 Menschen kamen ums Leben. (Foto: Foto: Getty)

Eins neben dem anderen liegen die Betonbetten in der prallen italienischen Juli-Sonne. Seit dem 6. April, als in der Nacht um 3:32 Uhr der heftige Erdstoß über die Gegend kam, brennt sie auf die Haut der Obdachlosen in den Abruzzen. Papolas trauriger Blick schweift über den Beton, er sieht einen knatternden Hubschrauber am Horizont und hinten, am Rand des Areals, da stellen die Arbeiter bereits eines der hölzernen Fertighäuser auf.

Fertighütten für den Winter - oder auch länger

Für den Winter, das heißt mindestens für die kommenden drei Winter, werden die Fertig-Hütten das Zuhause der Menschen aus Onna sein. So hat es der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi versprochen. Wer weiß, ob überhaupt schon die Fundamente gegossen wären, wenn sich nicht von Mittwoch an die Mächtigen der Welt zum G-8-Gipfel im nahen L'Aquila versammelten. Am Mittwoch früh wird die Bundeskanzlerin Onna besuchen, mit Berlusconi durch das Trümmer-Dorf schreiten und den Grundstein für ein Gemeindehaus legen.

Franco Papola wird der Kanzlerin die Hand schütteln, er ist Vorsitzender des Ortsvereins, eine Respektsperson. Auch ihn hat es am 6. April schwer getroffen: Beim Erdbeben verlor er seine Mutter und seine Schwiegermutter. 41 von 260 Dorfbewohnern kamen ums Leben. Fast jedes Haus in Onna stürzte ein oder wurde schwer beschädigt.

"Das neue Onna", so nennen die Leute vom Zivilschutz das Holzhütten-Lager. Aber Papola und die anderen wollen kein neues Onna, sie wollen ihr altes Dorf wieder zurück. Es soll wieder aufgebaut werden. "So wie es einmal war", sagt Papola. Etwa 50 Millionen Euro könnte der gesamte Wiederaufbau kosten.

Den Grund, weshalb die Bundeskanzlerin Onna besuchen wird, kann man heute noch auf einer Tafel an der Via dei Martiri Nummer 26 nachlesen, der Straße der Märtyrer, im alten Dorf. Eine Steintafel ist dort eingelassen, die an die 17 Opfer der "Nazi-Tyrranei" erinnert.

Am 11. Juni 1944 erschossen Wehrmachtssoldaten die Zivilisten als "Vergeltung" für einen Partisanenangriff. 65 Jahre lang gedachten die Menschen aus Onna dem ersten Martyrium ihres Dorfes allein. Nie wurde ein Gerichtsprozess geführt, nie kam jemand zu Gedenkfeiern zu Besuch.

Erst seit Onna beim Erdbeben zum zweiten Mal heimgesucht wurde, steht vor dem Haus Nummer 26 auch ein Gedenkkranz der Bundesrepublik Deutschland. Die Bundesregierung hat entschieden, ihre Erdbeben-Hilfe ganz auf das kleine Abruzzen-Dorf zu konzentrieren.

Es muss vor 65 Jahren ähnlich ausgesehen haben in Onna. Bevor sie weiterzogen, sprengten die Soldaten ein Dutzend Gebäude in dem damals noch kleineren Ort. Wenn man die Via dei Martiri, die man heute nur mit Helm und in Begleitung eines Feuerwehrmannes betreten darf, in Richtung Ortsmitte läuft, stehen rechts nur noch die Fundamente eines alten, zweistöckigen Hauses.

Wie nach dem Krieg

Links ist im ersten Stock die Außenwand eines Gebäudes herausgebrochen. Manche Dächer in der Straße hängen schief, andere sind eingestürzt. Überall ziehen sich Risse durch die Mauern. Ein Haus wird notdürftig mit Stahlseilen zusammengehalten. Immer wieder erheben sich riesige Trümmerhaufen, die einmal Häuser waren. Gesteinsbrocken versperren den Weg, Holzbalken ragen in den Himmel. Damals wie heute war Staub aus den Ruinen emporgestiegen, Schreie der Angehörigen hallten durch die Gassen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie die Deutschen inzwischen in Onna gesehen werden - und was die Bewohner des Dorfes fürchten.

An den Staub, den Sternenhimmel und die Schreie in der Nacht vom 6. April erinnert sich Lucia Colaianni, 54. Mit ihrem Mann und ihrer Mutter sucht sie gerade ein paar Hosen bei der Kleiderspende am Zeltlager aus. Ohne, dass man überhaupt gefragt hat, beginnt Lucia Colaianni zu erzählen, es platzt aus ihr heraus. Wie sie von ihrer Tochter Valentina aus den Trümmern gezogen wurde, an der Schulter und am Knie verletzt, wie die beiden sich mit einem Seil aus dem oberen Stockwerk ins Freie abließen.

An ihrem Schlüsselbein ist noch der rote Strich der Operation zu sehen, der sich Lucia Colaianni nach dem Unglück unterziehen musste. Ihre Stimme bebt, ihr Kinn beginnt zu zittern. Via dei Martiri 35 ist die Adresse der Colaiannis. Dort stehen nur noch Wände, das Dach ist eingestürzt. Die Colaiannis, Lucias Mann, die Mutter und die Tochter, wohnen nun in Zelt Nummer 30. "Wir sind wirklich dankbar, dass die Deutschen uns helfen", sagt sie. Lucia Colaiannis Urgroßvater Zaccaria Colaianni und ihr Großonkel Igino Pezzopane, damals 16 Jahre alt, waren unter den Opfern am 11. Juni 1944.

Die Hoffnung ist groß, dass die Anwesenheit der Deutschen diesmal Gutes bringt. Zehn Mitglieder des deutschen Technischen Hilfswerks sind seit April in Onna im Einsatz. Sie haben Zäune aufgestellt, die provisorischen Duschkabinen mit aufgebaut, zimmern Dächer und Tore. "Wir wollen das Böse der Vergangenheit in Gutes umwandeln", hat Michael Steiner gesagt, der Deutsche Botschafter in Rom, als er am 65. Jahrestag des Massakers an der Gedenkfeier in Onna teilnahm und anschießend eine große Delegation des Dorfes in seine Residenz in Rom einlud. Franco Papola, der Ortsvereins-Vorsitzende, bedankte sich damals in einer kurzen Rede. Unter anderem erwähnte er - seine Stimme stockte etwas -, es sei das erste Mal seit Monaten, dass die Menschen aus Onna von Porzellan-Tellern essen.

Die Botschaft hat eine Spendenkampagne für den Wiederaufbau gestartet, die Bundesregierung hat drei Millionen Euro bereitgestellt, für den Wiederaufbau der Kirche und des Gemeindehauses. Volkswagen hat eine Million Euro gespendet, viele andere haben Geld gegeben. Ein deutscher Architekt unterstützt vor Ort die Planungen zum Wiederaufbau. Der positive Wille ist spürbar, alle haben ein gutes Wort für das THW und den deutschen Botschafter übrig. Doch was passiert, wenn die Regierungschefs wieder abgereist sind und die Erdbebenopfer langsam aus den Nachrichten verschwinden? Wie viel von Onna kann wirklich wiederaufgebaut werden?

Nur eine öffentlichkeitswirksame Geste?

Die Hilfe aus Deutschland fällt in eine Zeit, in der die letzten Gerichtsprozesse gegen ehemalige Wehrmachtsoffiziere laufen, in Deutschland wie in Italien. Weil der Oberste Gerichtshof in Rom entschieden hatte, die Bundesrepublik müsste heute wegen Nazi-Verbrechen aufkommen, verklagte Deutschland aus Furcht vor Massenklagen Italien jüngst vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Als Zeichen ihrer Verbundenheit setzten beide Länder eine Historikerkommission zur Aufarbeitung der deutschen Gewalt in Italien ein. Merkels Besuch in Onna und die Hilfsaktionen sollen trotz der Klage auch ein Symbol dafür sein, dass die Deutschen sich ihrer Geschichte stellen.

Giustino Parisse, 50 Jahre alt, sitzt zum Mittagessen im großen Zelt. Parisse und seine Frau haben alles verloren. Die 16-jährige Tochter Maria Paola, der 18 Jahre alte Sohn Domenico und Parisses Vater starben in den Trümmern. Parisse hörte seine Kinder rufen und konnte sie nicht retten.

Eine Woche nach der Tragödie ist Giustino Parisse wieder in die Arbeit gegangen, er ist Lokalchef der Zeitung Il Centro und schreibt täglich über die Folgen des Erdbebens und das Engagement der Deutschen in Onna. "Es ist das Dorf des doppelten Schmerzes", sagt er mit leiser Stimme. Als 18-Jähriger hatte Parisse begonnen, im Fall des Wehrmachts-Massakers zu recherchieren, vor fünf Jahren veröffentlichte er eine historische Dokumentation.

Anfangs sei er sich nicht sicher gewesen, ob das Angebot der Deutschen nicht ein Werbespot sein sollte. Doch inzwischen sei er überzeugt, dass sie wirklich helfen. "Diese Woche sieht uns die ganze Welt", sagt Giustino Parisse. "Die Angst ist nur, dass die Aufmerksamkeit irgendwann wieder sinkt."

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