NSU-Prozess ohne türkische Medien:Angst vor Videoübertragung ist überflüssig

NSU-Prozess, Oberlandesgericht München, Beate Zschäpe, NSU

Der NSU-Prozesssaal in München ist viel zu klein. Eine Übertragung in einen Nebenraum würde dieses Problem beheben.

(Foto: Jakob Berr)

Der Münchner Gerichtssaal für den NSU-Prozess ist viel zu klein. Viele Medien müssen draußen bleiben. Trotzdem lehnt die Justiz eine Übertragung in einen Nebenraum ab. Bei der Begründung klingt der Horror vor einem Schauprozess durch. Doch der ist unbegründet.

Von Heribert Prantl

"Öffentlichkeit" war und ist ein Gegengewicht zur staatlichen Macht, sie verbürgt Freiheit: In den Lehrbüchern zum Strafverfahren steht daher seitenweise der große Lobpreis auf die öffentliche Verhandlung, und das Bundesverfassungsgericht hat erst soeben wieder, im Deal-Urteil, Wert und Bedeutung der Transparenz im Strafprozess gepriesen.

Man hört beim Lesen von alledem schier die Glocken läuten: Der Öffentlichkeitsgrundsatz zähle "zu den Grundlagen des Strafverfahrens", ja "zu den grundlegenden Einrichtungen des Rechtsstaats überhaupt". Seit der Aufklärung, so heißt es, diene die öffentliche Strafverhandlung "der Kontrolle der Rechtsprechung", so werde "eine Geheimjustiz verhindert". Und dabei stehe heute "die Massenmedienöffentlichkeit im Vordergrund".

Das klingt so, als reiße sich die Justiz fast ein Bein aus, um sich von der Öffentlichkeit kontrollieren zu lassen. Das ist aber nicht so. Es gibt eine Scheu der Strafkammern vor der Publizität. Diese Scheu hat einen guten Grund, wenn es gilt, die Interessen von Opfern, also ihre Privat- und Intimsphäre, zu schützen. Wenn Öffentlichkeit dazu führt, dass Persönlichkeitsrechte unheilbar verletzt werden, dann ist sie deplatziert. Wenn ein Gericht aber mit Absicht einen kleinen Sitzungssaal sucht, um dann die Medienöffentlichkeit unter Hinweis auf drangvolle Enge und die Notwendigkeit ungestörter Rechtsfindung auszuschließen, ist das einer selbstbewussten Justiz unwürdig. Das Bundesverfassungsgericht hat das vor fünf Jahren der Strafjustiz so ins Stammbuch geschrieben.

Im NSU-Verfahren ist es nun so, dass sich die Münchner Justiz nicht absichtlich einen kleinen Sitzungssaal gesucht hat; es gibt in München einfach keinen größeren Gerichtsraum als den Schwurgerichtssaal im Strafjustizzentrum. Einen größeren Saal hätte die Justiz anmieten müssen - so wie vor fünfzig Jahren beim Auschwitz-Prozess in Frankfurt. Der Prozess begann damals im Rathaus Römer und wurde dann ins Bürgerhaus im Stadtteil Gallus verlegt, in ein Haus mit Turnhallencharakter. Vor Gericht standen dort erst 22, dann 20 Angeklagte wegen gemeinschaftlichen Mordes und Beihilfe zum Massenmord in 30 000 Fällen. Die akribischen Ermittlungen des Generalstaatsanwalts Fritz Bauer hatten es möglich gemacht, Anklage zu erheben und überlebende Opfer zu laden, die nun Zeugen sein konnten. Dieser erste Auschwitz-Prozess war nicht nur der bis dahin größte Strafprozess der jungen Bundesrepublik; er dauerte 20 Monate, 357 Zeugen wurden gehört; er war auch der erste Versuch einer öffentlichen Aufarbeitung des Holocaust. Er wurde zu einem Wendepunkt in der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit.

Urteile werden wegen zu wenig Öffentlichkeit aufgehoben

Fritz Bauer hat damals den angemieteten Gerichtssaal zum Klassenzimmer der Nation gemacht. Hier erschütterte er die falschen Gewissheiten der Nachkriegsgesellschaft. Der Lageplan des KZ Auschwitz hing wie eine Mahnung hinter dem Richtertisch. Dieser Prozess ist auch ein Exempel dafür, wie neue Technik genutzt werden kann: Es existiert ein vollständiger Tonbandmitschnitt, er umfasst 430 Stunden Tonaufnahmen. Der Münchner Strafverteidiger Werner Leitner geht darauf in seiner Dissertation "Videotechnik im Strafverfahren" ausführlich ein. Dieser Ton-Mitschnitt ist Teil seines Petitums "für mehr Dokumentation und Transparenz" im Strafprozess. Leitner, Vorsitzender des Strafrechtsausschusses des Deutschen Anwaltvereins, lobt das "innovative Öffentlichkeitsbewusstsein" der damaligen Justiz - und wundert sich, wie "störrisch" sie sich heute im NSU-Verfahren neuen Techniken verweigert.

Warum keine Videoübertragung aus dem zu kleinen Gerichtssaal in einen weiteren Saal?, fragt er sich. Und auch Winfried Hassemer, früherer Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, hält diese Lösung für sehr bedenkenswert. Die Münchner Justiz hatte 2009 beim Prozess gegen den NS-Schergen John Demjanjuk eine Videoübertragung erst erwogen, dann verworfen - aus Angst vor der Revision, aus Angst davor, dass der Bundesgerichtshof das Urteil wegen "zu viel Öffentlichkeit" aufheben könnte.

Diese Angst bezieht sich auf Paragraf 169 Satz 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG). Dort heißt es in etwas altertümlicher Formulierung: "Ton- und Fernseh-Rundfunkaufnahmen sowie Ton- und Filmaufnahmen zum Zwecke der öffentlichen Vorführung oder Veröffentlichung ihres Inhalts sind unzulässig". Nun ist eine bloße Übertragung - nur! - in einen anderen Saal (der von der Justiz kontrolliert wird) gerade keine Aufnahme zum Zweck der öffentlichen Vorführung oder Übertragung; die Vorführung bleibt strikt gerichtsöffentlich.

Aber die Angst der Münchner Justiz gründet offenbar auf einer Formulierung im Lehrbuch zum Strafverfahrensrecht von Roxin/Schünemann. Dort heißt es, dass man den Rechtsgedanken des § 169 Satz 2 GVG "auf andere Fälle der Öffentlichkeitserweiterung übertragen und es als unzulässig ansehen müsse, wenn Strafverhandlungen wegen des Publikumsandrangs in außergerichtliche Massensäle verlegt, durch Lautsprecher auf die Straße oder durch eine Abhöranlage ins Dienstzimmer der Gerichtspräsidenten übertragen werden". Da klingt der Horror vor einem Schauprozess durch. Die Gerichte im europäischen Ausland zeigen, dass so ein Horror nicht begründet ist; Videoübertragung ist dort umfassend üblich. Mit einem Gerichtsfernsehen, mit dem TV-Spektakel also, wie man es aus den USA kennt, hat diese Videoübertragung nichts zu tun. Sie hat keine Prangerwirkung, sie vergrößert nur den zu kleinen Gerichtssaal.

Bundespräsident Gauck hat beim Empfang für die vielen türkischstämmigen Hinterbliebenen der NSU-Mordanschläge versichert, dass "ihr Leid wahrgenommen und anerkannt wird". Diese Aufgabe obliegt ganz wesentlich der Justiz; indem sie zum Beispiel dafür sorgt, dass türkische Medien das Prozessgeschehen ordentlich mitverfolgen können; wenn es nicht anders geht: per Video. Die Angst vor der Revision ist unbegründet. Urteile werden in Karlsruhe nicht wegen zu viel, sondern wegen zu wenig Öffentlichkeit aufgehoben.

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