NSA-Affäre:Deutschland muss seine Chance ergreifen

Hinweise auf US-Überwachung von Merkels Handy

Demonstration gegen die NSA-Affäre in Berlin (Archivbild)

(Foto: dpa)

Die USA haben das in sie gesetzte Vertrauen als Hüterin elementarer Freiheitsrechte (auch im Internet) verspielt. Kein Staat der Welt wäre besser geeignet, diese Rolle zu übernehmen, als Deutschland. Was die Bundesregierung jetzt tun sollte.

Ein Gastbeitrag von Ben Scott

Bei kaum einem Thema wird von den Regierenden so viel geredet und so wenig getan wie beim Thema Digitalisierung. Die meisten Politiker betonen inzwischen das Offensichtliche: Das Internet ist eine machtvolle Kraft in der modernen Gesellschaft, in jeder Hinsicht. Mehr als zwei Milliarden Menschen weltweit sind online; der Wirtschaftssektor wächst dynamisch; die neuen Technologien treiben soziale Bewegungen an; die NSA liest mit; wer im Ausland mobil telefoniert, zahlt absurd hohe Roaming-Gebühren.

Selbst die staubigsten Ministerien bekommen etwas von diesem Wandel mit. Und doch ändert sich die Verwaltung im Grunde wenig. Ministerien, die nicht ausdrücklich für Bits und Bytes zuständig sind, ignorieren digitale Themen zumeist und überlassen sie anderen Behörden. Der "digitale IQ" der meisten Politiker ist wenig beeindruckend, selbst wenn es mittlerweile eine Garde junger, fähiger Leute gibt. Vor zehn Jahren konnte man sich noch darüber amüsieren, dass die eigenen Kinder mehr vom Internet und dessen Möglichkeiten verstanden als man selbst. Heute ist das nicht mehr so lustig.

Deutschland ist das Paradebeispiel für eine digitale Entwicklungsstörung. Doch jetzt eröffnet sich eine einmalige Chance, in die Führungsspitze der Welt bei diesem Thema vorzurücken. Die Regierung hat ausreichend Mittel und höchst professionelle Beamte. Aber bisher fehlte der politische Wille, eine umfassende digitale Strategie auszuarbeiten und umzusetzen. Im Moment gibt es keinen Plan für die institutionellen Reformen, die nötig wären, um zum Beispiel E-Government anbieten zu können, um die digitalen Menschenrechte in aller Welt zu befördern oder um Amerikas Überwachungspraxis entgegenzutreten. Es ist Zeit, das zu ändern.

In der NSA-Affäre könnte Deutschland Führungsstärke zeigen

Das könnte viele wichtige Vorteile mit sich bringen, einige greifbar, andere etwas vager. Deutschland könnte sich dadurch produktive neue Märkte erschließen; es könnte die dringend benötigte Führung in internationalen Institutionen übernehmen; und es könnte ein neues politisches Rahmenwerk für ein Internet voranbringen, in dem das Recht Vorrang hat.

Obwohl nichts im Koalitionsvertrag darauf hindeutet, dass es die Regierung in dieser Hinsicht besonders eilig hätte - sie sollte ihre Prioritäten rasch überdenken. Die Bereitschaft, in der digitalen Politik ein verantwortbares Risiko einzugehen, könnte sich als lukrativ erweisen. Das gilt vor allem in Zeiten politischer Krisen, in denen Lösungsideen so selten wie wertvoll sind. Beginnen wir mit der Außenpolitik.

Die Affäre um den früheren Mitarbeiter der National Security Agency (NSA) und späteren Whistleblower Edward Snowden gibt Deutschland eine Möglichkeit, Führungsstärke zu zeigen - mit allen Risiken und möglichen Erfolgen, die daran geknüpft sind. Die Herausforderung ist, internationale Datenschutzregeln und Geheimdienstmethoden zu modernisieren und auf einen Nenner zu bringen, um auf diese Weise die alles durchdringende Überwachung einer vernünftigen demokratischen Kontrolle zu unterwerfen.

Europa muss Standards für die digitale Privatsphäre setzen

Die NSA-Reform, die das Weiße Haus angekündigt hat, ist ein kleiner, erster Schritt in die richtige Richtung. Aber die USA haben das in sie gesetzte Vertrauen als Hüterin von Recht und Ordnung im Internet verspielt. Dieses Führungsvakuum hat Staaten mit eher zynischen Motiven auf den Plan gerufen. Abgesehen von einigen Vertretern, die sich laut und deutlich geäußert haben, ist auch von der EU wenig zu sehen. Doch es gibt eine wahre Chance, das Vertrauen in das Internet als einen sicheren Marktplatz für Ideen und Güter wiederherzustellen: Europa muss neue Standards für die Wahrung der Privatsphäre im digitalen Zeitalter vorlegen.

Deutschland ist dabei die logische Führungsmacht. Kein anderes Land der Welt verfügt gleichzeitig über so großes politisches Gewicht, so große wirtschaftliche Interessen im digitalen Bereich - und so große internationale Integrität, wenn es um Menschenrechte und Datenschutz geht. Ausländische Politiker und Geschäftsleute, die mit der EU zu tun haben, besuchen zunehmend zwei Städte: Brüssel und Berlin. Manchmal auch nur Berlin. Darüber hinaus wird Deutschlands moralische Autorität respektiert, gegen staatliche Überwachung einzutreten - nicht wegen der Desaster des 20. Jahrhunderts, sondern weil Deutschland sich mit diesen Desastern so beispielhaft auseinandergesetzt hat. Deutschland könnte Europa hinter sich versammeln und sich als eine glaubwürdige Alternative zu den USA anbieten.

Bisher allerdings erschöpft sich das deutsche Auftreten im NSA-Skandal in Empörung, anstatt über Alternativen zu reden. Das nützt wenig. Die neuen Datenschutzstandards, die US-Präsident Barack Obama jüngst angekündigt hat, bleiben weit hinter den europäischen Forderungen zurück.

Berlin sollte aus seinen Überzeugungen Mut schöpfen, eine gründliche Prüfung durchführen und dann Standards für Datenschutz und Überwachung veröffentlichen, die für Demokratien die Messlatte sehr hoch legen. Diese Standards würden für die EU zu einem Modell werden und könnten das Fundament für Verhandlungen über ein transatlantisches Abkommen und vielleicht einen weltweiten Vertrag werden.

Was Merkel aus der Umweltpolitik lernen kann

Internet-Politik im Allgemeinen - und Datenschutz-Politik im Besonderen - eignet sich hervorragend als Feld, auf dem Deutschland die Führung übernehmen kann, weil der Verdacht fernliegt, Berlin verfolge nationalistische Pläne. Die Probleme, die es zu lösen gilt, umfassen die weltweite Regelung des Internets, die Meinungsfreiheit im Internet, Technologie und Entwicklungspolitik sowie den Schutz vor staatlicher Überwachung. Bei jedem dieser Bereiche geht es nicht darum, eine enggefasste, einzelstaatliche Agenda durchzusetzen. Es geht darum, ein globales Informationsnetzwerk zu bewahren und zu befördern, das allen Nutzen bringt.

Deutschland führt bereits beispielhaft in der Umweltpolitik; vergleichbar muss es nun auch in der Internet-Politik darum gehen, eine Tragödie für das Allgemeinwohl abzuwenden, das durch nationale Eigeninteressen bedroht ist. Das Auswärtige Amt denkt seit mehr als einem Jahr über so eine Strategie nach - es hat lange vor Snowden damit begonnen. Es gibt also kompetente, hochrangige Leute, die die Führung übernehmen könnten.

Wenn wir auf die Wirtschaftspolitik blicken, so wird Europa immer noch von der Euro-Krise beherrscht. Jeder scheint der Ansicht zu sein, dass Europa - um aus Schulden und Sparzwang herauszuwachsen - neue Industrien aufbauen und seine globale Wettbewerbsfähigkeit verbessern muss. Wie das genau geschehen soll, ist nicht ganz klar.

Eine Brüsseler Initiative - genannt "Digital Agenda for Europe" - ist ein guter Anfangspunkt. Sie fasst verschiede Vorschläge zur Entwicklung neuer Geschäftsfelder zusammen. In Deutschland sollte diese Initiative sich darauf konzentrieren, ein echtes Programm zur Beschleunigung von technologischen Start-up-Unternehmen in allen Bereichen - von Internet-Start-ups über Medizin- und Biotechnologie bis zur Agrartechnologie - zu entwickeln.

In allen Bereichen liegt das Land zurück

Doch es ist nie leicht, neue Industrien zu schaffen. Es kommt immer zu Reibereien zwischen Altem und Neuem. Deswegen wäre es notwendig, echte - und daher umkämpfte - Ressourcen durch Änderungen im Steuer- und Arbeitsrecht zu verschieben. Es ist notwendig, Ausbildungswege zu ändern, Infrastrukturmaßnahmen auf Weltniveau zu unterstützen und eine Kultur des Unternehmertums zu fördern.

Das bedeutet: Schon Schüler in der Mittelstufe müssen Technik und Geschäftsführung beigebracht bekommen; an Universitäten müssen spezielle Labore entstehen; die schnellsten Internetverbindungen müssen überall vorhanden und bezahlbar sein. All das erfordert harte Entscheidungen. Deutschland liegt in allen diesen Bereichen noch weit hinter den führenden Ländern der Welt zurück.

Einzeln gesehen, verdient keines dieser Probleme Priorität. Zusammengenommen sind sie der Schlüssel für eine digitale Wirtschaftspolitik - und verdienen sehr wohl Priorität.

Es wird Zeit

Die Geschichte der Technologiepolitik ist kompliziert. Der Punkt ist: Es ist für eine Regierung unmöglich, all die Möglichkeiten und Risiken des Internets immer nur reaktiv, von Fall zu Fall anzupacken, ohne entschlossene politische Führung und übergreifende Vision. Die Bundesregierung hat sich dafür entschieden, keinen Internet-Minister einzusetzen.

Schön. Aber die Aufgabe bleibt, eine umfassende digitale Strategie zu entwickeln und in der gesamten Regierungsarbeit umzusetzen. Irgendein institutionelles Modell, irgendeine verantwortliche Person wird Deutschland dafür auswählen müssen - schnell! Deutschland hat ein starkes nationales Interesse daran, dass dies geschieht. Und die internationale Gemeinschaft hat ein starkes Interesse daran, dass Deutschland sich dieser Herausforderung stellt. Deutschland sollte die Chance ergreifen, etwas Gutes zu tun.

Ben Scott war Innovationsberater der früheren US-Außenministerin Hillary Clinton. Derzeit ist er Direktor des Programms European Digital Agenda der Stiftung Neue Verantwortung in Berlin, einer unabhängigen, überparteilichen Denkfabrik. Der Text erschien in der SZ-Beilage zur Münchner Sicherheitskonferenz.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: