Vor dem Start des Neun-Euro-Tickets:Bahn frei

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(Foto: Illustration: Stefan Dimitrov)

Null-Euro-Ticket in Sachsen, Fernzug zum Bodensee: Länder und Kommunen müssen ausbaden, was sich die Bundesregierung auf die Schnelle ausgedacht hat. Nun schwanken sie zwischen kreativer Vorfreude und Panik.

Von Max Ferstl, Jan Heidtmann, Claudia Henzler und Iris Mayer

Es ist ein Thema, das viele Menschen bewegt, bevor es überhaupt losgeht. "Hast du's schon?", ist eine Frage, die man in diesen Tagen häufig hört, wenn sich Bekannte zufällig über den Weg laufen. Von 1. Juni an können Fahrgäste ein Vierteljahr lang den öffentlichen Nahverkehr in ganz Deutschland für nur neun Euro monatlich nutzen. Das Billigticket ist Teil eines Entlastungspakets, das der Bundestag angesichts gestiegener Lebenshaltungskosten beschlossen hat.

Die Nachfrage ist schon vor dem Start enorm: Die Bahn hat in nur zwei Tagen mehr als eine Million Tickets verkauft. Bei den Berliner Verkehrsbetrieben waren es bis einschließlich Donnerstag 370 000 Billig-Fahrscheine - zusätzlich zu den 870 000 Berlinern, die ein Abo haben, dessen Kosten bis Ende August ebenfalls auf neun Euro monatlich reduziert werden. In München war das Online-Ticketsystem zwischenzeitlich überlastet. Dort weist der Verkehrsverbund MVV auf seiner Webseite darauf hin, dass es keinen Grund zu Panikkäufen gibt: "Jeder Fahrgast, der ein 9-Euro-Ticket im entsprechenden Zeitraum kaufen möchte, erhält auch eines." Den folgenden Satz hat man sicherheitshalber sogar gefettet: "Das Kontingent ist nicht begrenzt."

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Wie viele Menschen das Angebot am Ende nutzen werden, ist nicht absehbar. Doch die Befürchtungen, dass es zu überfüllten Zügen kommt, sind groß. "Wir rechnen mit Überlastungen", sagte etwa Ulrich Weber, Geschäftsführer des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen in Baden-Württemberg.

Die Bundesländer waren zögerlich, das Projekt der Ampelregierung umzusetzen - nicht nur, weil sie fürchten, auf einem Teil der Kosten sitzen zu bleiben. Nun, da es kommt, bemühen sich Landesregierungen und Kommunen aber, das Beste aus der Aktion zu machen und das erwartete Chaos möglichst gering zu halten.

In Berlin hat die Verkehrsverwaltung zugesagt, mehr Busse und Bahnen einzusetzen. Zumindest an den Werktagen stehen jedoch kaum zusätzliche Fahrzeuge zur Verfügung. Bei der U-Bahn sei der Mangel an Wagen sogar so groß, dass auf einigen Strecken die Takte bereits ausgedünnt werden mussten. Pfingsten werde der "Härtetest", wie Peter Cornelius, Landesvorsitzender des Fahrgastverbands Pro Bahn, es formuliert. Das gilt gerade für Berlin und Brandenburg.

Nicht nur dort mahnt der Verkehrsverbund, Fahrräder zu Hause zu lassen und am Ziel zu mieten. Das gelte "insbesondere im Ausflugs-, aber auch im Berufsverkehr", wie die Deutsche Bahn betont.

Die ganze Aktion soll den Geldbeutel der Bundesbürger entlasten, sie gilt außerdem als gigantischer Feldversuch. Ein anderer Versuch ist zumindest in Berlin zuvor schon gescheitert. Die dortige Verkehrssenatorin Bettina Jarasch (Grüne) wollte über das Neun-Euro-Ticket die Berliner gleich langfristig an Bus und Bahn binden. Doch ihre Überlegung, bei Abschluss eines Jahresabos aus dem Neun-Euro-Ticket ein Null-Euro-Ticket zu machen, scheiterte unter anderem am Widerstand Brandenburgs. Auch den Vorschlag, das Neun-Euro-Ticket einfach um ein paar Monate zu verlängern, musste sie schließlich aufgeben. Mit dem Geld, "das uns in den Schoß geworfen wurde", hätte man etwas Nachhaltiges schaffen können, sagte Jarasch enttäuscht.

Anders in Sachsen: "Wir sehen das Neun-Euro-Ticket als Chance, durch Corona verlorene Fahrgäste zurückzuholen, und vor allem neue Kunden zu gewinnen", sagt Andreas Hemmersbach, Vorstand der Dresdner Verkehrsbetriebe AG. Deswegen bekommen alle Fahrgäste, die im Verkehrsverbund Oberelbe (dazu gehören neben Dresden auch Meißen und die Sächsische Schweiz sowie das Osterzgebirge) ein Monatsabo mit einer Mindestlaufzeit von zwölf Monaten abschließen, das Neun-Euro-Ticket zum Nulltarif. Zuwachs erwartet man vor allem im Freizeitverkehr, besonders auf Fahrten ins Elbsandsteingebirge könnte es eng werden. Zusätzliche Züge seien auf dieser Strecke nicht vorgesehen, sagt ein Sprecher des Verkehrsverbunds, immerhin könne nach dem Ende von Bauarbeiten aber wieder der reguläre Halbstundentakt angeboten werden. Eine "Erhöhung der Fahrzeugkapazitäten" sei wegen der Sommerferien schwierig, Dienstpläne werden weit im Voraus gemacht, fahrtüchtige Bahnen stehen nirgendwo auf Halde. Dennoch sollen auf Pendlerverbindungen wie zwischen Dresden und Leipzig einzelne Linien verstärkt werden.

Auch in Magdeburg plant man einen zusätzlichen Bonus für das Neun-Euro-Ticket. Die Verkehrsbetriebe bieten allen Fahrgästen, die bis Ende Juli ein reguläres Monatsabo abschließen, ein viertes Monatsticket für neun Euro an, statt der sonst üblichen 54,20 Euro. Gut möglich, dass es in Sachsen-Anhalts Landeshauptstadt zu Überlastungen komme, sagt Birgit Münster-Rendel, Geschäftsführerin der MVB. Derzeit spüre man aber auch hier noch immer einen Corona-Effekt, es seien weniger Menschen mit Bus und Straßenbahn unterwegs als vor der Pandemie. Der Sommerfahrplan im Juli und August könne nicht mal schnell umgemodelt werden, die Urlaubs- und Werkstattplanung habe ein Jahr Vorlauf: "Dies lässt sich nicht einfach umkehren, da viele Mitarbeitende ihren Urlaub bereits gebucht haben und die Instandhaltung der Fahrzeuge essenziell ist." Bahn- oder Bus-Linien, die wochentags im Zehn-Minuten-Takt fahren, verkehren von Mitte Juli an nur noch vier Mal pro Stunde.

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Der in Halle ansässige Regionalbahnbetreiber Abellio Rail Mitteldeutschland organisiert hingegen vier zusätzliche Züge, um gefragte Pendlerverbindungen in den kommenden drei Monaten gut bedienen zu können. "Wir haben alles auf die Beine gestellt, was möglich war", sagt Geschäftsführer Rolf Schafferath.

In Thüringen will die Landesregierung nach den Worten von Verkehrsministerin Susanna Karawanskij (Linke) "eigenes Geld in die Hand nehmen", um bei einem Ansturm auf bestimmte Strecken zu reagieren und Pendlerfrust zu vermeiden. Bis zu 1,5 Millionen Euro sind dafür im Gespräch. Auch andernorts haben Verkehrsminister angekündigt, bei Bedarf zusätzliche Züge und Kapazitäten zu organisieren - soweit möglich.

Auf ein Problem, das die Länder nicht ausräumen können, weist das Verkehrsministerium in Stuttgart hin: "Ferienzeit ist auch Baustellenzeit." Die DB Netz AG lege wichtige Ausbesserungsarbeiten extra in die Ferien, damit Berufs- und Schulverkehr nicht so stark betroffen sind.

Immerhin hat Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) in Baden-Württemberg ein Problem abgeräumt, das einige potenzielle Bahnnutzer in den sozialen Medien seit Tagen aufgeregt diskutieren: So kann das Neun-Euro-Ticket nicht in den Intercity-Zügen genutzt werden, die auf einigen wenigen Strecken in Deutschland sowohl als Fernverkehr als auch als Nahverkehr gelten, und in denen normalerweise auch Nahverkehrstickets gültig sind. Seit Mittwoch steht fest: Mit dem Neun-Euro-Ticket darf der Intercity von Stuttgart zum Bodensee genutzt werden.

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