Neue Verfassung für Ungarn:Ein europäischer Skandal

Am heutigen Montag wird in Ungarn eine neue Verfassung verabschiedet und Viktor Orbáns Ankündigung einer "nationalen Revolution" in die Tat umgesetzt. Es ist ein politisches Kunststück bisher unbekannten Typs: Ungarn installiert eine konservative Revolution unter dem Dach der Europäischen Union - mit allen Insignien der Demokratie.

Andreas Zielcke

Der Begriff der konservativen Revolution galt stets als widersinnig. Eine Umwälzung der Verhältnisse zugunsten des Status quo bricht die Regeln des politischen Verstands. Eben deshalb konnte die Idee eines konservierenden Umsturzes in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ihre unerhörte Sprengkraft entfalten.

Neue Verfassung für Ungarn: Ein nationales Bekenntnis? Ungarn demonstrieren gegen die Verfassungsänderung ihrer Regierung.

Ein nationales Bekenntnis? Ungarn demonstrieren gegen die Verfassungsänderung ihrer Regierung.

(Foto: AFP)

"Der konservative Mensch ... ist jetzt notwendiger Erhalter und Empörer zugleich", postulierte Arthur Moeller van den Bruck in seiner Propagandaschrift "Das Dritte Reich". Woher auch immer ihr Ressentiment gegen die Verflüssigung der Geschichte herrührt, die Aufklärung, Autonomie und Individualität bewirken, die konservative Revolution will die Wiederauferstehung historischer kollektiver Größe. Einen solchen Revolutionstraum hegt auch Viktor Orbán in Ungarn.

Gleich nach dem Wahlsieg seiner Partei, der Fidesz, der ihr im April 2010 zusammen mit den Christdemokraten der KDNP die Zweidrittelmehrheit im Parlament eingebracht hatte, kündigte er die "nationale Revolution" an. Der Augenblick ist gekommen, wenn am heutigen Montag die neue Verfassung vom Parlament beschlossen wird. Doch die Regierungsmehrheit bringt mit diesem Akt ein politisches Kunststück bisher unbekannten Typs fertig. Sie installiert eine konservative Revolution unter dem Dach der Europäischen Union, mit allen Insignien der Demokratie.

Vordergründig richtet sich die neue Konstitution gegen die bisherige sowjetische Verfassung, die aus dem Jahre 1949 datiert. Deren kommunistischer Gehalt ist zwar seit 1990 entsorgt und durch demokratische Strukturen ersetzt. Doch das Pathos der historischen Zäsur, die auch die letzten Spuren des verhassten Gegners tilgt, lässt sich mit einem selbst aus der Taufe gehobenen Grundgesetz viel wirkungsvoller inszenieren.

Das alles aber würde nur die demokratische Transformation fortsetzen wie sonst in Osteuropa, herrschte in der neuen Verfassung nicht ein Geist, der aus den Tiefen des vergangenen Jahrtausends aufsteigt. Nicht dass Orbán und Fidesz die konservativen Revolutionäre der Weimarer Zeit schlicht eins zu eins kopieren würden. Die demokratischen Grundsätze bekämpfen sie nicht, ihre neue Verfassung bekennt sich dezidiert zu Republik, Rechtsstaat und liberalen Werten. Das hindert sie aber nicht, die Verfassung ideologisch im 11. Jahrhundert zu verankern, in der Gründungszeit des magyarischen Mythos (auch hier ganz nach Moeller van den Bruck: "Der konservative Mensch sucht heute wieder die Stelle, die Anfang ist"). Der Anfang, das ist das Reich des heiligen Stephan, der von 997 bis 1038 regierte.

Man muss diese Verschränkung von säkularer Jetztzeit und missionarischem Mittelalter nachvollziehen, um die Originalität dieser Revolution zu begreifen. Insbesondere das Herzstück der Demokratie, die parlamentarische Willensbildung, die damals alle konservativen Revolutionäre von Hugo von Hofmannsthal bis Carl Schmitt so aggressiv als Ausdruck von Entscheidungsschwäche und nationaler Selbstlähmung schmähten, erkennen die ungarischen Revolutionäre als legitimes Forum der politischen Machtausübung an. Aber darin, wie sie dies ausgestalten, beweisen sie den Zynismus der Nachgeborenen. Sie haben erkannt, wie man gerade das wichtigste demokratische Gremium zur Verfestigung der nationalen Revolution nutzen kann.

Mit dem Enthusiasmus einer über alle Kritik erhabenen Mission richten sie den Staat neu aus: Demokratie ist nicht mehr der Endzweck der Verfassung, sondern Medium eines hehren geschichtlichen Auftrags. Der Wortlaut des Auftrags ist niedergelegt im Text der Konstitution. Auf beispiellose Weise verbindet er sakrale Geschichtsbesinnung mit moderner Verfassungsidee.

Die Autorität des neuen Geistes

Vor allem die Präambel, hier "Nationales Bekenntnis" genannt, markiert mit großem Pomp die Autorität des neuen Geistes. Eine vergleichbare exzessive Beschwörung der ebenso gloriosen wie leidensreichen Geschichte des eigenen Volkes enthält in Europa nur die Präambel der polnischen Verfassung; auch dort gibt sie der Erlösung von einer traumatischen Vergangenheit Ausdruck. Einzigartig im ungarischen Fall aber ist, dass die Verfassung selbst vorschreibt, dass alle ihre Regeln im Sinn des "Nationalen Bekenntnisses" auszulegen sind.

Hungarian Prime Minister Viktor Orban addresses to media

Gleich nach dem Wahlsieg seiner Partei kündigte Viktor Orbán die "nationale Revolution" an. Der Augenblick ist nun gekommen.

(Foto: dpa)

Damit ist eine zeitgemäße rechtliche Interpretationslogik zwar nicht völlig über den Haufen geworfen, aber doch in einen bizarren, systemsprengenden Kontext der historischen Selbstwahrnehmung, Selbstbeweihräucherung und Selbstbemitleidung Ungarns gesetzt - ein Auslegungskontext, der nah an die numinose Hermeneutik von Heilsgeschichten oder gar von Offenbarungstexten heranreicht.

Jede Anwendung der Verfassung wird damit in ein obskures Dunkel getaucht, in dem sich national-berufene Seelsorger und Demagogen besser zurechtfinden werden als auf rationale Klarheit verpflichtete Juristen. Als wäre diese methodische Kalamität nicht übel genug, kommt es noch schlimmer bei der inhaltlichen Substanz des Bekenntnisses. Diese gipfelt in der feierlichen Verpflichtung auf die "Heiligen Krone". Nicht die Republik, sondern diese sakrale Krone verkörpert die Quintessenz der Konstitution, nämlich "die Kontinuität des ungarischen Verfassungsstaates und der Einheit der Nation".

Dabei geht es nicht um die Stephanskrone, die im Budapester Parlamentsgebäude zusammen mit dem Reichsapfel und dem Zepter aufbewahrt wird. Sie ist nur das äußere Symbol der immateriellen Heiligen Krone. Mit deren Doktrin hat es eine ganz eigene Bewandtnis, mit dem Begriff der "Krone" in Monarchien wie etwa der britischen ist sie nicht zu verwechseln. Nach traditionellem britischen Verständnis stehen die höchste Majestät und Souveränität dem König oder der Königin zu. Die "Krone" ist von diesem royalen Herrschaftsrecht abgeleitet, sie repräsentiert die königliche Macht als Institution, hat dem König gegenüber also kein Eigenrecht. Im Namen der Krone kann nur handeln, wer vom König ermächtigt wurde.

In der ungarischen Tradition ist dieses Rangverhältnis auf den Kopf gestellt. Die Krone, nicht der Monarch, ist Träger der Souveränität und überragt als Instanz alle weltliche Macht, selbst den König. Ihr gehört das Landesvermögen, im Namen der Krone wird regiert, sie erringt Siege und sie erleidet Niederlagen. Über ihr steht nur der Allmächtige, der ihr, so will es der Mythos, seine Macht verliehen hat. Die Heilige Krone Ungarns steht darum, wenn nicht über der Nation, so doch über der politischen Entscheidungskraft ihrer Bürger.

Natürlich ist der monarchische Ursprung dieser Doktrin nicht zu übersehen. Da sie aber die Krone über jeden physischen Herrscher stellt, scheint ihrer Übertragung auf post-monarchische und selbst republikanische Verhältnisse nichts im Wege zu stehen. Doch der Schein trügt, das Moment des unitarischen Zentralwillens wird, ob sehenden Auges oder nicht, zwangsläufig mitübertragen. Da Orbán und die Fidesz gleichwohl die Doktrin in die Verfassung inkorporieren, lösen sie fatale Implikationen für das staatliche Fundament aus. Wenn nicht primär die Menschenwürde, sondern ein spiritueller Wesenskern der Nation, genannt "Krone", zum unantastbaren höchsten Wert erklärt wird, unterwirft sich der Rechtsstaat in letzter Instanz einem rechtsfreien heilig-unheiligen Geist.

Im Sinne der Krone

Und nicht nur der Rechtsstaat, auch die Demokratie wird in dem Maße entmündigt, in dem sich die politische Selbstbestimmung einem eisernen magyarischen Naturgesetz fügen muss. Wer immer künftig die Priester der Heiligen Krone sein werden, den Rechtsgehorsam aller politischen Entscheidungen können sie nur an der magyarischen Geschichte und der magyarischen Eingebung messen, nicht am Gesetzeswortlaut. Das hat, über die Einladung zum amtlichen Schamanentum hinaus, eine klare staatstheoretische Konsequenz: Die Suprematie der Krone führt tendenziell zur autokratischen Herrschaft der Gleichgesinnten.

Fast schon zwingend ist der territoriale Schluss, den die Verfassung aus der Unterwerfung unter die Heilige Krone zieht. Ungarn umfasst seit dem Vertrag von Trianon 1920 nur mehr einen Rumpfteil des alten magyarischen Herrschaftsgebiets. Warum aber sollte der Geist der Krone an den "oktroyierten" Grenzen halt machen?

Also bekundet die neue Verfassung unverhohlen, alle ungarisch-stämmigen Landsleute jenseits der Grenzen mitzuvertreten; gemeint sind vor allem die ungarischen Minoritäten in Rumänien, Serbien, Ukraine und der Slowakei. Dass ein EU-Staat sich aus seiner Verfassung heraus irredentistisch in die inneren Verhältnisse anderer Länder einmischt, ist ein europäischer Skandal.

Damit aber auch die Dritte Gewalt der Krone nicht in die Parade fährt, wird das Verfassungsgericht an die Kandare gelegt. Nicht nur, dass die Auslegung der Verfassungsregeln im Sinne der Krone ohnehin eher magyarisch-geschichtsdeutende Seher statt professionelle Verfassungsjuristen anziehen wird. Und nicht nur auch, dass die Kompetenz des Gerichts stark beschnitten wurde.

Vielmehr ist es das Parlament selbst, das die Verfassungsrichter wählt. Damit wäre zwar das Gericht nicht notwendig stärker politisiert als ihr Pendant in anderen westlichen Staaten. Doch hier bettet sich dieser Wahlmodus in die Gesamtstrategie der Parlamentsherrschaft. Nicht nur künftige Verfassungsänderungen, sondern auch alle Wahlakte (wie die der höchsten Richter oder des Präsidenten der Republik) ebenso wie alle Gesetze, die die Verfassung als bedeutsam ansieht, werden an eine "Super-Majorität" von zwei Dritteln der Stimmen gebunden.

Was oberflächlich aussieht, als strebte man nur nach einer lagerüberschreitenden Abstimmungsharmonie, sichert de facto die dauerhafte nationalkonservative Regentschaft im Namen der Krone. In dieser Legislaturperiode verfügt die Regierungskoalition sowieso über die Zweidrittelmehrheit. Dabei sind die Sitze der rechtsextremen Jobbik (der "Bewegung für ein besseres Ungarn") gar nicht dazu gerechnet. Doch wegen der Festlegung der Super-Majorität in allen entscheidenden Punkten sind die Konservativen selbst dann nicht zu übergehen, wenn sie einst aus der Regierung ausscheiden - solange sie mindestens ein Drittel der Sitze (plus einem) erringen.

Auf absehbare Zeit kann sie also keine demokratische Abstimmung mehr nachhaltig entmachten. Die Revolution hat gesiegt.

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