Netzneutralität:Vorfahrt für Filme

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Bestimmte Daten sollen künftig bevorzugt durchs Internet reisen. Netzanbieter finden das gerecht, kleinen Firmen könnte das aber schaden.

Von Varinia Bernau

Dieses Votum zerstört Europas Zukunft. Es verhindert nämlich, dass der alte Kontinent doch noch einmal zu einem Ort wird, an dem etwas ganz Neues entsteht - das befürchtet zumindest Sir Tim Berners-Lee. Der britische Wissenschaftler hat in den Achtzigerjahren am Forschungszentrum Cern das World Wide Web mitentwickelt. Er ist also einer, der etwas von der Sache versteht. Aber eben auch einer, der sich vor allem mit Technik beschäftigt - und weniger mit der Frage, woher das Geld kommen soll, um genau diese Technik weiterzuentwickeln.

Netzneutralität ist eine der wichtigsten Regeln im Internet. Sie besagt, dass alle Daten mit gleicher Geschwindigkeit und Güte übertragen werden - und zwar unabhängig davon, wer sie abschickt, wer sie empfängt und was eigentlich darin steckt. Ein Film wird auf Youtube also genauso schnell geladen wie in der Mediathek eines Fernsehsenders. Dies ist ein wesentlicher Grund dafür, dass Internetunternehmen wie Amazon, Google oder Netflix so schnell so groß geworden sind und das Leben vieler Menschen verändert haben. Eben weil die Regeln im Internet für alle gleich sind, konnte es zu einer Spielwiese für findige Unternehmer werden.

Das Problem ist nur: Die schöne Theorie vom neutralen Netz deckt sich immer weniger mit der Realität. Die Regeln aus den frühen Tagen des Internets funktionieren nicht mehr, seit die Leute nicht mehr nur ein paar Webseiten anklicken, sondern im Internet ganze Bücher runterladen oder mit ihrem Bankberater skypen. Und seit sich nicht nur Menschen über das Internet austauschen, sondern auch Fabriken, Autos und ärztliche Geräte. Der Netzausrüster Cisco schätzt, dass sich das weltweite Datenvolumen von 2013 bis 2018 verdreifachen wird. Videos werden dabei den größten Anteil ausmachen. Das Netz muss also ausgebaut werden.

Fragt sich nur, wer die Kosten dafür trägt. Bislang tun dies allein die Telekommunikationsunternehmen - und sie bitten dafür wiederum ihre Kunden zur Kasse. Deshalb greifen die Netzanbieter nun auch zu ähnlich großen Worten wie einer der Väter des Internets: Es gehe um nicht weniger als um Gerechtigkeit. Die Leute, die nur gelegentlich im Netz surfen, sollten nicht länger die Anschlüsse anderer Kunden subventionieren, die dort regelmäßig Filme aus Tauschbörsen herunterladen.

Die Internetkonzerne konnten die Forderung, wenigstens ein bisschen von ihren Milliardengewinnen in den Ausbau der Netze zu stecken, ganz gut abwehren. Die nun vom EU-Parlament beschlossene Neuregelung ermöglicht eine Überholspur gegen Gebühr - und zwar für sogenannte Spezialdienste. Die notwendigen Daten für die Telemedizin oder das Fernsehen im Internet dürfen immer dann, wenn es eng wird im Netz, bevorzugt durchgeleitet werden. So soll sichergestellt werden, dass beim Streaming das Bild nicht ruckelt oder während einer Operation mit Fachärzten in der Ferne nicht etwa unscharf wird - nur weil gerade nicht genügend Bandbreite zur Verfügung steht.

Unklar ist bisher, wer die vielen möglichen Verstöße überwachsen soll

Bei den meisten Flatrates wird die Übertragungsgeschwindigkeit gedrosselt, sobald der Kunde ein bestimmtes Volumen verbraucht hat. Manche Netzanbieter klammern dabei allerdings gewisse Dienste aus. So bietet die Deutsche Telekom schon heute einen Mobilfunktarif mit einer "Music Streaming Option" an, bei dem die Songs von Spotify ohne Belastung des Datenvolumens aufs Smartphone kommen. Wer dagegen seine Musik bei Deezer, Juke oder Apple Music hört, verbraucht mit den dabei anfallenden Daten sein Guthaben eher. Im ersten Gesetzentwurf der EU war diese Praxis noch untersagt, in dem nun verabschiedeten Papier findet sich das Verbot nicht mehr. Die Verfechter der Netzneutralität sorgen sich, dass damit kleineren, womöglich innovativeren Firmen der Einstieg ins Geschäft erschwert wird.

Unklar ist bislang, wer darüber wacht, dass die Regeln eingehalten werden oder auch nur prüft, ob es wirklich eng war im Netz oder sich da womöglich jemand Vorfahrt erkauft hat. Voraussichtlich werden die Behörden der einzelnen Länder wie etwa die Bundesnetzagentur im Blick behalten müssen, wie die Netzanbieter die Daten tatsächlich behandeln. Doch diese Behörden sind vielerorts schon heute unterbesetzt. Außerdem können sie gegen Verstöße kaum in einem spürbaren Maß vorgehen. Und einen Streit in einem langwierigen Gerichtsprozess auszufechten, passt kaum zu dem hohen Tempo, in dem immer neue Angebote im Internet auftauchen.

Auch deshalb befürchtet Sir Tim Berners-Lee, der Begründer des Internets, aber auch zahlreiche Start-ups, dass mit der vagen Formulierung in dem nun beschlossenen Gesetz die Netzneutralität de facto abgeschafft wird. Und dies mache es für all die Entwickler, die derzeit an den Diensten von morgen tüfteln, so schwer, sich gegen die Großen durchzusetzen. Für einen Technologiekonzern wie Apple, der mehr als 190 Milliarden Dollar auf der hohen Kante hat, ist die Gebühr für die Überholspur kein Problem. Für ein Start-up, das es mit Apple aufnehmen will, schon. Deshalb wird von der Auslegung des Brüsseler Beschlusses nicht nur abhängen, wie groß die Vielfalt im Internet für europäische Verbraucher ist. Sondern auch, ob sich Firmen mit neuen Ideen noch durchsetzen können.

© SZ vom 28.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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