Gipfeltreffen in Chicago:Nato nimmt Raketenschutzschild in Betrieb

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Es ist der Beginn eines militärischen und politischen Großprojekts: Die Nato hat auf ihrem Gipfeltreffen in Chicago den Start ihres Abwehrschirms verkündet. Damit sollen Raketen aus feindlichen Staaten abgefangen werden, von denen sich die Mitgliedsstaaten immer häufiger bedroht sehen. Russland lehnt das System ab.

Die neue Nato-Raketenabwehr für Europa ist teilweise einsatzbereit. Eineinhalb Jahre nach dem Grundsatzbeschluss von Lissabon haben die 28 Nato-Länder die erste Betriebsphase des europäischen Raketenabwehrschirms beschlossen. Das erklärten die Staats- und Regierungschefs der Nato-Staaten in Chicago. 2020 soll das Abwehrsystem voll einsetzbar sein, bis dahin wird es schrittweise aufgebaut.

Der Raketenschirm soll Europa Schutz vor einer möglichen Bedrohung durch Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von bis zu 3000 Kilometer bieten, etwa aus Iran. Geplant ist ein Netz von Radaranlagen und Stellungen mit Abwehrraketen in Europa, um feindliche Raketen im Anflug zu zerstören. Die Nato sieht sich einer "wachsenden Bedrohung" durch Raketen ausgesetzt, da demnach mehr als 30 Länder solche Technologien besitzen oder zumindest daran arbeiten sollen.

In einem ersten Schritt wurde jetzt ein in der Türkei stationiertes Frühwarnradar mit Abfangraketen auf einem US-Kreuzer im Mittelmeer vernetzt und diese Abfangfähigkeiten unter das Kommando eines Nato-Gefechtsstandes in Ramstein in Rheinland-Pfalz gestellt. Die nächste Phase soll etwa in den Jahren 2016 bis 2017 erreicht werden, wenn deutsche Patriot-Raketen, eine Stellung mit US-Abfangraketen in Rumänien sowie niederländische Fregatten mit Frühwarnradargeräten in das System eingebunden werden. Im Jahr 2018 sollen US-Abfangraketen in Polen hinzukommen. Gegen Ende des Jahrzehnts soll der Abwehrschirm vollständig stehen.

Russland fühlt sich von Abwehrsystem bedroht

Russland fühlt sich durch das System bedroht und lehnt es ab. Vize-Verteidigungsminister Anatoli Antonow sagte in Moskau, die Raketenabwehr könne das strategische Gleichgewicht stören. Eine auf dem letzten Nato-Gipfel vereinbarte Zusammenarbeit war als Durchbruch angesehen worden, seitdem geriet die Kooperation ins Stocken.

Moskau fordert einen gemeinsamen Betrieb sowie rechtlich bindende Garantien der Nato, dass sich der Abwehrschild nicht gegen Russland richtet. Die Nato lehnt beides ab und bietet Russland etwa den Austausch von Aufklärungsdaten an. Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen stellte jedoch auch klar, dass die Militärallianz an dem Aufbau des Raketenschirms festhalte: "Und das kann natürlich nicht von Russland blockiert werden, das ist eine Entscheidung der Nato."

Verbesserte Bodenaufklärung

Als Konsequenz aus dem Libyen-Krieg will die Nato zudem ihre Bodenaufklärung deutlich verbessern. Sie gab in Chicago grünes Licht für die Beschaffung von fünf unbemannten Drohnen. Das Bodenaufklärungssystem AGS (Alliance Ground Surveillance) soll 2016 bereit sein und von 13 Staaten gemeinsam aufgebaut werden. Deutschland konnte allerdings nur unter Vorbehalt zustimmen, weil der Haushaltsausschuss das teure Projekt zunächst auf Eis gelegt hat.

Zugleich verständigte sich das Bündnis auf eine Liste von mehr als 20 Projekten, die jeweils von einigen Ländern gemeinsam geschultert werden. Mit der sogenannten Smart Defense (Intelligente Verteidigung) sollen durch Arbeitsaufteilung Kosten gespart werden. Die Projekte reichen von der Entschärfung von Sprengfallen durch Roboter bis hin zur Luftbetankung. Auch soll es mehr Spezialisierung unter den 28 Nato-Partner geben. Unter deutscher Führung werden beispielsweise die Fähigkeiten zur Seefernaufklärung zusammengeführt. Zu Smart Defense gehört auch die unbefristete Sicherung des Luftraums im Baltikum durch Nato-Partner, auch daran beteiligt sich die Bundesrepublik.

Streit wegen Hollandes geplantem Truppenabzug

Frankreichs neuer Staatschef Hollande musste sich in Chicago Kritik gefallen lassen, weil er die Kampftruppen unter den gut 3000 in der afghanischen Provinz Kapisa stationierten Soldaten schon in diesem Jahr zurückholen will, also zwei Jahre vor dem Auslaufen des Isaf-Einsatzes. Die Einlösung seines Wahlkampfversprechens nannte er einen "pragmatischen" Beschluss. Es handele sich um zwei Einheiten. Die übrigen Soldaten würden zu einem späteren Zeitpunkt abgezogen.

Außenminister Guido Westerwelle rügte solche nationalen Alleingänge und warnte vor einem "Abzugswettlauf" unter den Truppenstellern. Ein schnellerer Rückzug "aus innenpolitischen Gründen" könne die terroristische Bedrohung verstärken. "Wir sollten klug genug sein, gemeinsam bei dem zu bleiben, was abgestimmt und abgesprochen worden ist." Kanzlerin Angela Merkel stimmte ihm zu. Deutschland stehe "sehr fest" zu dem verabredeten Prinzip "Gemeinsam hinein, gemeinsam wieder raus".

Auch US-Präsident Barack Obama bekannte sich zum gültigen Abzugsplan. "Wir stehen vereint in der Entschlossenheit, die Mission zu erfüllen." Bis 2014 lägen noch "harte Tage und viel Arbeit" vor den Isaf-Truppen. Auch danach könne sich das Land auf die Hilfe und Freundschaft der Staatengemeinschaft verlassen, sagte er in der Eröffnungsrede in seiner Heimatstadt.

Tausende Nato-Gegner gehen auf die Straße

In Chicago gingen nach Angaben der Organisatoren 15.000 Aktivisten gegen Krieg und Nato-Politik auf die Straße. Sie forderten die Regierungen auf, weniger Geld für ihre Armeen und mehr für Bildung und Gesundheitssysteme auszugeben. Am Rande kam es, wie schon Samstagnacht, zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, bei der Sicherheitskräfte Schlagstöcke einsetzten und Dutzende Demonstranten festnahmen. Zudem wurden vier junge Männer verhaftet, weil sie Brandanschläge geplant haben sollen, darunter auf eine Wahlkampfzentrale Obamas.

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