Migration:Menetekel Italien

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Die Mittelmeerflüchtlinge tragen die immer gleiche Botschaft nach Europa: Wie wollt ihr den Zustrom von Menschen organisieren? Italien zeigt gerade, wie gefährlich es ist, diese Frage zu ignorieren. Wegschauen und nichts tun geht nicht mehr lange gut. Die Radikalität in der Bevölkerung wächst.

Von Stefan Kornelius

In nur wenigen Tagen wird in Italien eine symbolische Marke überschritten: Mehr als 100 000 Menschen werden dann allein in diesem Jahr mit Booten über das Mittelmeer in das Land gekommen sein, 17 Prozent mehr als im vergleichbaren Zeitraum vor einem Jahr.

Was mit den Menschen, in ihrer Mehrzahl junge Männer, geschieht, ist nicht so transparent, wie die Statistik vorgaukelt. 170 000 sind Schätzungen zufolge in sogenannten Empfangszentren untergebracht, viele Zehntausend tauchen im Land unter, leben in Baracken- und Zeltsiedlungen, versuchen, über die Grenzen vor allem nach Frankreich zu gelangen. Die OECD spricht von bis zu einer Dreiviertelmillion illegalen Einwanderern.

Es wiederholt sich also im vierten Sommer ein Migrationsdrama, das sich nach wie vor auf eine Botschaft reduzieren lässt: Europa ist komplett ratlos, wie es mit der Einwanderung umgehen soll. Alle Statistiken sagen, dass inzwischen die Mehrzahl der Bootsflüchtlinge ihre Lebenssituation verbessern will. Asylverfahren streben die wenigsten an, zumindest nicht in Italien. In diesem Jahr kommt die zweitgrößte Migrantengruppe aus Bangladesch, einem der ärmsten Länder der Erde, 7300 Kilometer entfernt.

Italien hat die Migrantenlast über viele Jahre stoisch und mit großer humanitärer Anstrengung geschultert. Nun aber ändert sich das Klima. Zu beobachten ist eine politische Aufladung, die ernst genommen werden muss, nicht nur weil bald gewählt wird. Die Radikalisierung lässt sich besonders im Umgang mit den Helfern ablesen, die es sich zur Mission gemacht haben, Leben der Bootsflüchtlinge zu retten. Selbst dieser humanitäre Konsens wird nicht mehr geteilt, auch weil es die Organisationen nicht schaffen, einen Verdacht zu zerstreuen: Ist es ihre Präsenz, die das Schlepperwesen befeuert und immer mehr Menschen in die Überfahrt treibt? Wie also verhält es sich mit den berüchtigten Pull-Faktoren? Rechtspopulisten nutzen den Zuspruch aus vielen anderen Milieus und schüren den Verdacht noch.

Ärgerlich aber ist, dass es auch vier Jahre nach der ersten großen Fluchtbewegung über das Mittelmeer keine Ehrlichkeit im Austausch der Argumente gibt. Die Mitglieder der Europäischen Union handeln nationalstaatlich, nicht gemeinschaftlich. Das Dublin-System ist wertlos, weil es Geografie zum Schicksal erklärt: Wer Küste hat, hat Pech gehabt. Ein Verteilungsverfahren wird es nicht geben, Hilfe für die Fluchtregionen wird zu wenig geleistet, und ob sie nützt, ist von Fall zu Fall verschieden. Der Küstenschutz funktioniert ebenso schlecht wie die Rettungshilfe oder die Schlepperbekämpfung.

Zu diskutieren gäbe es also viel, aber es ist immer die nächste Wahl, die das Klima der Verdruckstheit begünstigt und die Beantwortung der Gretchenfrage verhindert: Will man mehr Menschen aufnehmen? Oder will man mehr Abschottung? Die Migrationsdynamik wird sich so schnell nicht ändern, die Argumente zum Umgang mit den Menschen auch nicht. Wer die Fragen nicht beantwortet, muss sich also nicht wundern, wenn politische Randgruppen diese Arbeit übernehmen. Das gilt übrigens auch und ganz besonders für Deutschland, das vor zwei Jahren eine sehr spezielle Erfahrung mit Flüchtlingen gemacht hat und im Zweifel heute vermutlich vom ebenfalls wahlkämpfenden Österreich am Brenner die Sorgen abgenommen bekommt - welch böse Ironie. Italien aber könnte das Land sein, in dem die Radikalen dann nicht nur die Migrantenfrage lösen. Die Probleme mit dem Euro und der nicht geliebten EU könnten dann gleich mit erledigt werden.

© SZ vom 22.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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