Mailand:Avanti!

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Ob bei der Mode oder in den Medien, bei Dienstleistungen oder in der Bildung - die Stadt ist wieder landesweit, in manchen Dingen sogar global ein Trendsetter. Das hebt die Stimmung auch in anderer Hinsicht.

Von Oliver Meiler

Das Wort Salotto wird aus dem Italienischen gewöhnlich mit Wohnzimmer übersetzt. Aber eigentlich ist es mehr, ein Salotto ist etwas erhabener als ein Salone. Wenn die Mailänder also von ihrem Salotto reden, dann meinen sie die prächtige Einkaufspassage im Herzen der Stadt, die Galleria Vittorio Emanuele, mit ihrem hohen Glasgewölbe gegen Regen und Schnee, mit ihren vier mächtigen Armen, offen zur Stadt, zu ihren Kaffeehäusern, den hübschen Geschäften, dem Ristorante Savini, unter dessen Kronleuchtern schon Giuseppe Verdi und Giacomo Puccini aßen. Die Galleria ist eine Reminiszenz an das 19. Jahrhundert, da man dem Kommerz noch halbe Basiliken schenkte, da das Flanieren nach einem gehobenen Rahmen verlangte. Nach einem Salotto.

Der Dom ist nebenan, die Scala auch, die Museen, das Piccolo Teatro, das Viertel der Mode sind in der Nähe. Vielleicht versteht man Mailand, seinen Gestus und seine Seele, nirgends besser als in seinem eleganten Wohnzimmer, eine Schwade Kaffeeduft aus einer der Bars in der Nase. Gerade weil die Galleria ein bisschen dekadent ist.

Da vorne lümmelt eine Schulklasse herum. Die Kinder rutschen so kreischend laut auf den Marmorfliesen, dass eine ältere Dame bedrohlich mit dem Regenschirm fuchtelt: "Bambini, per favore!" Sanft belächelt von ihrem Mann, der dem kindlichen Treiben wohl etwas zusätzliche Lebensfreude abgewinnt. Ganz unbeeindruckt geben sich die drei Herren in den eng geschnittenen Anzügen, Initialen auf dem Hemdbauch, womöglich Banker, die einfach nur dastehen und rauchen und wissen, wie chic sie dabei aussehen. Fremd ist nur das britische Touristenpärchen, das schon im Frühjahr kurze Hosen trägt. Ist doch Süden, muss doch warm sein! Dabei ist das Mailand, Norden. Wäre es nicht so oft neblig, würde man jeden Tag die nahen Alpen sehen.

Die Italiener aus anderen Teilen des Landes sagen "lassù", wenn sie Mailand meinen, "dort oben", am Rand. Mehr Europa als Italien, mehr Welt schon. In dem Wörtchen "lassù" steckt auch sonst einiges, nicht nur geografisch. "Mailand ist das New York Italiens", sagt Beppe Severgnini, ein bekannter Journalist der Mailänder Zeitung Corriere della Sera und Buchautor, "Mailand ist der Bug des Schiffes. Wenn Italien eine Regatta gewinnt oder wenn es auf einen Felsen prallt, dann kommt immer zuerst Mailand an - oder dran."

Wenn nun in diesen Tagen alles nach Milano schaut, wo die Expo beginnt, die Weltausstellung, dann rückt eine Italien irgendwie entrückte Stadt in den Fokus der Scheinwerfer, eine verkannte Schönheit im dauernden Wandel. Modern und zugleich nostalgisch. Wirtschaftlich global und politisch provinziell. Innerlich dynamisch und gebremst vom Zentralstaat. In Mailand funktionieren die öffentlichen Verkehrsmittel, die Krankenhäuser, die Abfalltrennung, das Car- und Worksharing. Mailand war immer die Avantgarde in einem Land, das vom Nachlass der Antike und der Renaissance lebt, vom Gestern, von der offensichtlichen und schier besessen konservierten Schönheit, von deren touristischem Potenzial: Rom, Florenz, Venedig. Mailand ist anders. Mailand ist Morgen. Mailand setzt Trends, nationale und globale. Mailand war oft ein politisches Labor für Italien, im Guten wie im Bösen. Der Faschismus kam aus Mailand, der Sozialismus und der Populismus der Neuzeit.

In Rom wird parliert und diniert. In Mailand aber wird gearbeitet

Vor allem aber war Mailand immer, zusammen mit dem kleineren Turin, Italiens Motor, der Antreiber des Booms nach dem Zweiten Weltkrieg, des "Miracolo" in den Fünfzigern und Sechzigern. Und später noch einmal, in den Achtzigern. Mailand zog in guten Zeiten Einwanderer in großer Zahl an, Binnen-Immigranten. Es waren Italiener von "laggiù", von "dort unten" also, aus Süditalien, dem Mezzogiorno, der aus der Perspektive Mailands mehrere Welten entfernt liegt. Mailand hat sie alle integriert: die Sizilianer, die Kalabrier, die Sarden und Pugliesi. An der Peripherie Mailands wuchsen Trabantenstädte für die Fabrikarbeiter, die in einem grotesken Kontrast zur innerstädtischen Eleganz standen und doch gut passten, grau in grau. Man war froh um die Arbeit. Viel Geld floss zurück in den Süden. So sorgten Mailands Fabriken für den sozialen Frieden in einem zerrissenen Land, das erste Welt und dritte Welt in sich trägt.

Mailand sah sich in diesen guten Zeiten gerne als "Capitale morale" Italiens, als heimliche, eigentliche, moralische Hauptstadt. Wo gearbeitet und Volksreichtum geschaffen wurde, während in Rom, der politischen Kapitalen, doch nur theatralisch parliert und fett diniert wurde. So sah man das "lassù". Die Zeiten sind lange vorbei. Und mit ihnen schwand die Moral, sie verrottete gar jämmerlich. Mailand bescherte Italien in den vergangenen drei Jahrzehnten eine Reihe denkwürdiger Politiker, die weder der einst mythisch überhöhten "Borghesia illuminata" entsprangen, dem erleuchteten Bürgertum der Stadt, noch dem innovativen Unternehmertum.

Der Sozialist Bettino Craxi brachte es in den Achtzigerjahren vom Mailänder Stadtrat zum italienischen Premier. Links war wenig an diesem Sozialisten. Selbst als Regierungschef behielt er seine Basis in Mailand, seinem Machtgeviert, das ihm, wie man bald erfahren sollte, auch als Basis korrupter Machenschaften diente. In Rom wohnte er in einem Hotel. Craxi stürzte über Tangentopoli, einen gigantischen Korruptionsskandal mit Epizentrum in seinem Mailand. Politik und Wirtschaft waren systematisch verfilzt. Er floh ins tunesische Hammamet und starb dort, politisch vereinsamt. Wenn die Rede auf Craxis Mailand kommt, dann fällt oft der Begriff "Milano da bere", wörtlich "Mailand zum Trinken". Gemeint ist eine Epoche der Exzesse, der Frivolitäten, der Vulgaritäten.

In dieser Zeit wuchs Silvio Berlusconi zur Persönlichkeit heran, Craxis enger Freund und politischer Erbe. Auch er ist Mailänder, Sohn eines Bankangestellten. Berlusconi brachte es auf nie restlos geklärte Weise vom hoch verschuldeten Bauunternehmer zum Medienmagnaten mit drei nationalen Fernsehsendern und zum reichsten Italiener. Craxi, so viel weiß man, verhalf ihm zu den TV-Lizenzen. Doch wo das viele Geld herkam, das er für den Bau seines Imperiums brauchte, blieb ein Rätsel. Auch Berlusconi wurde Premier, drei Mal. Seine Partei, Forza Italia, war in der Marketingabteilung seiner Firma entstanden. Sie war ein postpolitisches Konstrukt aus Plastik, ein origineller Wurf, eine Schlaumeierei aus Mailand. Auch Berlusconi mochte in Rom nie im Palazzo Chigi wohnen, dem Amtssitz italienischer Regierungschefs. Er kaufte sich in der Nähe einen eigenen Palast, den Palazzo Grazioli. Wieder zeigte ein Mailänder den Italienern, wie wenig er von Rom hielt.

Noch expliziter war Umberto Bossi, der Gründer der Lega Nord, der eigentlich aus Varese stammt, jedoch als Mailänder gilt. "Roma ladrona", nannte der Populist und Provokateur die Hauptstadt gerne, "großdiebisches Rom". Bevor er selber in Skandalen versank. Craxi, Berlusconi, Bossi - sie und ihre Leute regierten das bürgerliche Mailand fast drei Jahrzehnte lang. Bis 2011, bis man der Skandale und der schlechten Presse endgültig müde war.

Die Mailänder wählten einen Linken zum Bürgermeister, den Strafrechtsanwalt Giuliano Pisapia, einen Mann mit wenig Charisma und sauberem Leumund. Seine Wahl war ein Fanal, es nahm den Sturz Berlusconis vorweg. Obschon die Organisation der Expo von Korruptionsgeschichten durchzogen war, blieb Pisapias Stadtverwaltung unberührt von den Vorwürfen. Er sagt: "Mailand ist dabei, wieder die moralische Hauptstadt im Land zu werden." Man weiß nicht so recht, ob der Satz Verheißung oder Wunschvorstellung ist.

Beide großen Fußballvereine der Stadt spielen nur noch mittelmäßig gut

Italien jedenfalls braucht Mailand, seinen Motor mit Zukunftssinn, jetzt ganz besonders. Die Wirtschaftskrise hat auch die Stadt hart getroffen. Die Arbeitslosigkeit ist gestiegen, vor allem unter den Jungen. Unternehmen schlossen, Firmen mit großen Namen wurden ins Ausland verkauft. Unlängst wurde bekannt, dass der Reifenfabrikant Pirelli, eine Ikone der Stadt, chinesisch wird. Die beiden Fußballvereine Mailands - und dieser sportlichen Notiz sollte man unbedingt die gebührende Bedeutung beimessen - spielen nur noch sehr mittelmäßig gut und schauen hoffnungsvoll nach Asien: Der FC Internazionale, früher in den Händen der Mailänder Öl-Dynastie Moratti, gehört bereits einem indonesischen Unternehmer; der AC Mailand, noch im Besitz der Familie Berlusconi, soll in diesen Tagen an einen thailändischen Broker oder an einen chinesischen Multimilliardär verkauft werden. Die beiden balgen sich um den Verein. Da geraten gerade alte Gewissheiten durcheinander.

Mailand ist heute Möbeldesign und Mode, Medien und Multimedia. Natürlich bieten die Branchen der Dienstleistungsindustrie längst nicht so viele Jobs wie früher die Schwerindustrie. Auf manchen kreativen Gebieten ist man aber global führend. Mailand ist Italiens Bildungshauptstadt, die besten Universitäten im Land, die öffentlichen wie die privaten, stehen hier: die Statale, das Politecnico, die Bocconi.

Und Mailand baut und baut und baut sich neu. Diese Stadt hat keine natürlichen Grenzen: keinen Fluss, kein Meer, keine Hügel, schon gar keinen Hausberg. Die Lombardei ist flach, eine landschaftliche Langeweile sondergleichen - in welche die Stadt weiter hineinwächst. Es gibt neue Metrolinien, neue Parks, neue Fußgängerzonen, neue Autobahnen, eine neue Skyline mit hohen Türmen für Behörden und Banken. Und neue Viertel gibt es, an der Porta Nuova entsteht auf 400 000 Quadratmetern eine neue Stadt in der Stadt, erbaut von internationalen Stararchitekten. Die Aussicht auf die Expo hat einigen Großprojekten, die in der Krise eingeschlafen waren, den nötigen Kick gegeben.

"Mailand ist unheimlich sexy", sagt Severgnini, der Mailänder Journalist und Buchautor, "mit versteckten Gärten und verwunschenen Ecken - nicht so hübsch wie Rom oder Florenz, aber sehr, sehr sexy. Die Jungen, die für ihre Studien in die Stadt kommen, wollen nicht mehr weggehen." So ist "lassù" eine Hoffnung. Immer noch. Oder wieder. Wer eine Weile nicht mehr da war, würde die Stadt kaum wiedererkennen. Nur im Zentrum ist sie ganz sie selbst geblieben, rund um die Galleria, den Salotto. Das elegante Wohnzimmer der Stadt wurde für die Expo entstaubt und poliert. Und wie eh und je weht aus den Bars eine Schwade Kaffeeduft vorbei.

© SZ vom 30.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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