Libyen:Der Scharnier-Staat

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Das nordafrikanische Land ist strategisch wichtig für die Flüchtlingsfrage und den Kampf gegen den Terror. Doch auch fünf Jahre nach dem Sturz des Diktators Gaddafi fehlt ein funktionierender Plan, um das libysche Chaos zu beenden. Militärschläge reichen dafür nicht.

Von Moritz Baumstieger

Fünf Jahre ist es her, dass libysche Rebellen den Machthaber Muammar al-Gaddafi stürzten. Der Kampf der teils chaotisch organisierten Milizen damals zeigte zwei Dinge. Zum einen: Auch Kämpfer in Badelatschen und mit auf Pick-up-Trucks montierten Maschinenkanonen können eine Armee besiegen, wenn sie Unterstützung einer internationalen Koalition aus der Luft bekommen. Zum anderen: Ein militärischer Sieg bewirkt noch lange keine bessere Zukunft, wenn kein guter Plan für die Zeit danach existiert.

Seit fünf Jahren gelingt es nicht, in dem Land wieder einen funktionierenden Staat zu errichten. Die Folge ist, dass das libysche Machtvakuum all jene Probleme aufsaugt, die der internationalen Gemeinschaft im südlichen Mittelmeerraum mehr als nur Sorgen bereiten. Von Libyens Küste starten Flüchtlingsboote nach Europa, gleichzeitig sickern Dschihadisten in das Land ein, um das Chaos für sich zu nutzen.

Libyen ist schon allein durch seine geografische Lage das Scharnier des Schreckens in Nordafrika. Dies gilt sowohl für Flüchtlinge aus dem subsaharischen Afrika als auch für jene, die aus den Bürgerkriegsgebieten Syriens und des Irak einen langen Umweg nach Europa nehmen. Die Route über Libyen ist gefährlich - im Land werden Migranten gefoltert, die Überfahrt ist oft tödlich -, aber sie ist offen.

Die Dschihadisten der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) interessieren sich aus mehreren Gründen für Libyen: Die Filiale ihres Kalifats, die sie hier zunächst errichten konnten, sollte Auffanglager und Transferbasis für Rekruten aus dem Maghreb sein. Tunesien, der Musterstaat des Arabischen Frühlings, stellt mit die größte Fraktion an Kämpfern in Syrien und dem Irak. Außerdem träumte der IS von einer dschihadistischen Achse, die von Libyens Mittelmeerküste über den Saharastaat Niger bis ins westafrikanische Nigeria zur Terrorgruppe Boko Haram reicht.

Das Chaos im Land verschärft die Flüchtlings- und die Terrorkrise

Auch um das zu verhindern, fliegen die Vereinigten Staaten seit Montag wieder Luftangriffe auf Stellungen in Libyen. Vor Kurzem herrschte der IS noch über einen Küstenstreifen von fast 250 Kilometern Länge, heute ist er in wenige Viertel von Sirte, der Heimatstadt des früheren Diktators Muammar al-Gaddafi, zurückgedrängt. Wieder erringen teils chaotische Milizen dank Luftunterstützung Siege - doch wie steht es diesmal mit dem Plan für danach?

Die gute Nachricht lautet: Zumindest gibt es einen. Ende vergangenen Jahres einigten sich die verschiedenen Parteien in Libyen unter Vermittlung der Vereinten Nationen darauf, eine Einheitsregierung einzusetzen. Diese hat inzwischen unter Fayez Serraj ihre Arbeit in Tripolis aufgenommen. Allerdings verweigert ihr das im Osten des Landes tagende Parlament die Anerkennung - auch weil der dortige Militärchef Khalifa Haftar wohl davon träumt, das Land unter seiner Führung zu einigen.

Und so lautet leider die schlechte Nachricht: Noch funktioniert der Plan nicht. Libyen ist nach wie vor in mehrere Teile gespalten, in fast jeder Stadt regiert eine andere lokale Miliz. Dass diese Verbände sich bald einem zentralen Kommando unterstellen, eine nationale Armee also die tribale Machtverteilung aufbrechen kann, wäre jedoch der einzige Weg zur Einheit.

Die Lage erinnert an ein klassisches Experiment der Spieltheorie. Wenn alle Teilnehmer kooperieren, profitiert jeder von ihnen in naher Zukunft doppelt. Wenn jedoch auch nur ein einziger ausschert, hat er zwar einen kurzfristigen Vorteil, die eigentlich guten Voraussetzungen bleiben aber langfristig ungenutzt. Im Falle Libyens wären das - neben seiner strategisch wichtigen Lage, die Aufmerksamkeit und Zuwendungen der internationalen Gemeinschaft garantiert - der große Rohstoffreichtum, der eine verhältnismäßig kleine Bevölkerung gut versorgen könnte.

© SZ vom 04.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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