Langzeitarbeitslose:Feindbild Hartz IV

Hartz IV Die Recherche

Agentur für Arbeit in Hamburg: Wie es einem Langzeitarbeitslosen im System Hartz IV ergeht

(Foto: dpa)

Bastelarbeiten fürs Selbstwertgefühl, Schnitzeljagden für die "Alltagstauglichkeit". Was das Jobcenter von ihnen verlangt, empfinden viele Arbeitslose als Schikane. Ein Betroffener berichtet.

Von Kristiana Ludwig

1958 bis 1969: Schulbildung, mäßig, zum Bedauern der Eltern. 2000: Umschulung, zur spätrömischen Dekadenz. Bernhard Keller schiebt seinen Lebenslauf über den Tisch. "Was soll das?", fragt ihn der Kursleiter. "Sie wollten doch eine Gliederung", sagt Keller. Wenn es Krach gibt, ist Bernhard Keller in der Mitte, oder er ist die Ursache dafür. So war es immer in den Seminaren, zu denen ihn das Jobcenter geschickt hat, und so wird es bleiben, selbst nach seiner Zeit als Hartz-IV-Empfänger. Keller ist 62 Jahre alt. Seit 16 Jahren arbeitet er nicht mehr.

Keller lebt in München und er sucht einen Job. Er war in Bewerbungstrainings, in Kursen, die Arbeitsvermittler "Maßnahmen" nennen - für ältere Menschen, für solche mit Gesundheitsproblemen und für alle, die in Jobcentern "Kunden" heißen. Keller hat gelernt, seinen Lebenslauf zu schreiben. Er hat ihn abgeschickt, dreihundert Mal, sagt er. Doch statt zu einem neuen Arbeitgeber wechselte er nur von Maßnahme zu Maßnahme.

Durch die Gitter seines Balkons blickt Keller auf zwei Straßen. Eine, die seinen Wohnblock begrenzt, und eine andere, die über Brückenpfeiler führt. Schnellstraßenverkehr auf zwei Ebenen - in kaum einer anderen Gegend Münchens sind die Wohnungen so billig wie hier. "Sozialer Brennpunkt", sagen manche. Keller juckt das nicht. Er hat jahrelang am Flughafen gearbeitet. Lärm kann er ausblenden.

Bandscheibenvorfall, Arbeitsamt, Scheidung

Bernhard Keller reparierte Flugzeuge. Nach der Schule wurde er Berufssoldat, Mechaniker bei der Luftwaffe. Nach zwölf Jahren ging er als militärischer Berater in den Oman. Dort wartete er die Flieger und wies die Techniker ein. Anschließend wechselte er nach Hamburg, zur Lufthansa. Dann nach Frankfurt. Nach München. Damals, als er nach Bayern ziehen wollte und 38 Jahre alt war, schrieb er zehn Bewerbungen und bekam zehn Angebote, sagt er. Keller entschied sich für das Flugzeugwerk Dornier. Zwölf Jahre später war das Unternehmen pleite.

Der Bandscheibenvorfall kam 1996, das Arbeitsamt und die Scheidung folgten 1998. Keller hat das Gefühl in den Beinen verloren. Auf der glatten Oberfläche der Flugzeuge zu laufen, war danach nicht mehr drin. So begann sein Abstieg. Zum Schluss hat er Bleche gebogen, in Leiharbeit. Einen Job als Wachmann gab er wieder auf - weil er die Treppen nicht steigen kann. Er braucht eine leichtere Tätigkeit.

In einer Maßnahme des Jobcenters hat Bernhard Keller gelernt, wie er "eine tragfähige Brücke aus Altpapier" bauen kann. "Für mein Selbstwertgefühl", sagt er trocken. Er hat diese Sätze auswendig gelernt. Die Anekdoten hebt er auf: "Bis heute empfinde ich das als Beleidigung." Keller öffnet eine silberne Metalldose, darin liegt sein Tabak. Er dreht filterlos. Den grauen Bart hat er gestutzt, so kurz wie sein Haar. Ein Teekännchen steht auf einem karierten Tischtuch. Keller hält die Dinge in Ordnung, auch wenn die Welt um ihn herum in Unordnung gerät. Als in diesem Jahr endlich die Rente kam, da saß er einen Tag lang hier und zerriss Briefe vom Jobcenter in Fetzen. "Das könnte auch eine gute Maßnahme sein", sagt er. Er meint es ironisch, doch es steckt Bitterkeit darin.

Fördern und fordern

Was gemeinhin als Hartz IV bezeichnet wird, heißt offiziell Arbeitslosengeld II (oder Alg II). Die Leistung wurde im Rahmen der von Ex-VW-Manager Peter Hartz entworfenen gleichnamigen Sozialreformen am 1. Januar 2005 eingeführt. Sie hat die bis dahin geltende Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe in eine Leistung zusammengefasst.

Wer als Angestellter in Deutschland arbeitslos wird, erhält zunächst Arbeitslosengeld I. Die Höhe des Entgelts berechnet sich unter anderem nach dem letzten Brutto-Gehalt. Die Dauer des Anspruchs richtet sich nach dem Alter und danach, wie lange in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt wurde. Alg I wird höchstens 24 Monate gezahlt (für Arbeitnehmer ab 58). Wer in dieser Zeit keinen neuen Job gefunden hat, erhält Hartz IV. Arbeitslosigkeit oder der vorherige Bezug von Arbeitslosengeld I sind aber keine Voraussetzung für den Bezug von Arbeitslosengeld II. Es kann auch ergänzend zu einem Einkommen bezogen werden, wenn dieses alleine nicht zur Deckung des Bedarfs reicht (Aufstocker). Arbeitslosengeld II wird auf dem Niveau des Existenzminimums gezahlt.

Vom 1. Januar an liegt der Regelsatz bei 399 Euro im Monat. Dieser soll den Bedarf für Alltägliches wie Nahrungsmittel, Hausrat und Strom abdecken. Die Miete wird bis zu einem festgelegten Rahmen übernommen. Hinzu können Hartz-IV-Empfänger weitere Leistungen beantragen, wie zum Beispiel das Bildungs- und Teilhabepaket für Kinder. Hartz-IV-Empfänger verpflichten sich, Arbeits- oder Weiterbildungsangebote zu nutzen. Werden diese abgelehnt, kann das Jobcenter die Leistung kürzen. In den vergangenen Jahren ist die Gesamtzahl der Langzeitarbeitslosen merklich zurückgegangen. Durch die gute Konjunktur konnten sie zudem immer wieder kurzzeitig beschäftigt werden. SZ

Steigender Angstpegel

Arbeitslosenzahl steigt um 9000 auf 3 472 000

Für manche Hartz-IV-Empfänger sitzt hier der Feind.

(Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa)

Bernhard Keller heißt in Wahrheit anders. Er möchte unerkannt bleiben und das liegt an Hartz IV. Für ihn ist das Arbeitslosengeld II und die Behörde, die es vergibt, zu einem Feindbild geworden. Er fühlt sich nicht ernst genommen von den Beratern im Jobcenter, versteht nicht, warum sie ihn zu Aktivierungsübungen treiben, obwohl er sein Berufsleben längst aufgeben musste - unwiderruflich. Weil Keller die Gründe des Jobcenters nicht einleuchten, sucht er nach eigenen Erklärungen. Er vermutet ein System, er fühlt sich überwacht, verdächtigt. Er will sich dagegen wehren und andere verteidigen. Darin erkennt er einen Sinn.

Seinen letzten Kurs im Jahr 2012 habe er abgebrochen, sagt er. Ein Coaching zu mehr "Alltagstauglichkeit". Die Erwerbslosen übten darin, wie sie eine unbekannte Adresse in der Stadt mit dem Bus oder mit der Straßenbahn erreichen. "Schnitzeljagd", nennt das Keller. Eine solche Maßnahme zu verlassen kann für die Teilnehmer bedeuten, dass das Jobcenter ihnen Geld kürzt. "Fördern und Fordern", heißt das im Fachjargon der Arbeitsvermittler, denen Keller dort gegenübersitzt. Unterstützung und Sanktionen, Zuckerbrot und Peitsche - er hat genug.

Keller ging vor zehn Jahren das erste Mal zum Jobcenter. Damals hatte ihn das Arbeitsamt fortgeschickt, wegen des neuen Systems. Das war der Beginn von Hartz IV. "Der Angstpegel ist seitdem gestiegen", sagt Keller. Und der Wutpegel. Von den neuen Arbeitsvermittlern hält er wenig. Seit es Hartz IV gibt, wechselten sie ständig, seien uninformiert, ja, bösartig manchmal. Sie klärten ihre Kunden nicht über deren Rechte auf. Keller beobachtet das. Denn manchmal kennt er die Antworten besser als seine Berater - weil er das Jobcenter mittlerweile schon so gut kennt.

Zu alt, zu krank

Bernhard Keller sperrt sich gegen Ein-Euro-Jobs. Arbeiten für den Staat zu einem Niedriglohn? Gezwungen durch die ewig drohenden Sanktionen? Er sieht das nicht ein. Bewerbungstrainings sabotiert er. Er hat genug Maßnahmen gemacht. Mit jeder neuen wurde er unwilliger. Kämpferischer. Er hat in seinem Leben an 141 unterschiedlichen Flugzeugtypen geschraubt. Auch das ist das Ergebnis einer Maßnahme: Er hat sie dort durchgezählt. Alles, was er gelernt hat, hat er irgendwann einmal weitergegeben. Warum braucht heute niemand mehr sein Wissen?

Als Keller 1998 zum Arbeitsamt ging, kam er mit einem konkreten Wunsch. Er war 46 Jahre alt, er wollte eine Umschulung - vom Flugzeugbauer zu einem, der den Flugzeugbau lehrt. Für einen solchen Schritt, sagte man ihm, sei er noch nicht lang genug arbeitslos. Er solle erst einmal nach einer neuen Stelle suchen. Drei Jahre später fragte er wieder. Er sei zu alt, habe es nun geheißen. Dazu die kranken Beine - mit einer Umschulung werde er nichts mehr erreichen. Vor zwei Jahren hatte Keller eine neue Idee. In einer Behindertenwerkstatt könnte er als Handwerker arbeiten und zugleich Bedürftigen helfen. Auch für so einen Beruf müsse er gesund sein, habe der Arbeitsvermittler entgegnet. Das Jobcenter kennt Kellers Krankengeschichte. In seiner Akte habe gestanden, er sei in der Lage, drei Stunden am Tag zu arbeiten.

Unterstützung und Sanktionen, Zuckerbrot und Peitsche

Maßnahmen, die bloß drei Stunden dauern, gibt es. Einen Job findet er nicht. Seine Tage als jemand, der sich zur Ruhe setzen soll, aber nicht in Rente gehen darf, verbringt Bernhard Keller mit Dingen, die ihm Spaß bringen oder Geld. Er renoviert Wohnungen, am Jobcenter vorbei. "Das geht nicht anders", sagt er: Eine Monatskarte für den Nahverkehr kostet rund 60 Euro, der Hartz-IV-Regelsatz beträgt 391 Euro.

Keller will seine Zeit in etwas Sinnvolles investieren, in die Menschen um ihn herum. An den Wochenenden sucht er Elektronikteile auf dem Flohmarkt zusammen, später schraubt er Computer daraus. Er verschenkt sie an die Kinder der Nachbarn oder an Jobcenter-Kunden wie ihn. Sie sollen sich informieren, sagt er ihnen, im Internet. Dort steht viel darüber, wie der Staat Hartz-IV-Empfänger schikaniert.

Doch nun erhält er Rente, endlich. Jetzt geht Bernhard Keller ab und zu in eine Gaststätte. Dunkles Mobiliar, Billardtische, Käsespätzle - hier tauschen sie sich aus, unter Jobcenter-Kunden. Sie beugen sich über Arbeitsmarktzahlen, über ihre Bescheide und Zeitungsartikel. Werden Arbeitsvermittler gezielt ständig ausgetauscht, damit sie kaltherzig bleiben? Wird individuelle Förderung vernachlässigt, zugunsten einer Schattenwirtschaft? Sie wollen die Agenda der Bürokratie entlarven, die ihnen selbst so viele Rechtfertigungen abverlangt hat. Auch Bernhard Keller bereitet eine Klage vor. Er will Geld fordern, das ihm das Amt vorenthalten habe. Sein nächster Krach. Der ist ihm geblieben.

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