Krise in Kairo:Ägypten auf dem Weg zum Muslimbrüder-Staat

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Ägyptens Generäle lassen nicht erkennen, wie viel Macht sie abgeben werden, die Muslimbrüder wollen alle Macht an sich reißen, lassen aber im Unklaren, wie sie sich das Land vorstellen. Sicher ist nur: Das Experiment in Ägypten wird Folgen für die gesamte arabische Welt haben.

Tomas Avenarius, Kairo

Der neue Präsident Ägyptens versucht sich am Ausmisten seines Augias-Stalls, aber er wirkt nicht wie ein Herkules. Mohammed Mursi, Sieger der Präsidentschaftswahl vor wenigen Wochen, ist vor Kurzem in den Palast seines gestürzten Vorgängers Hosni Mubarak eingezogen. Der Muslimbruder, dem von den Generälen die Amtsgewalt beschnitten wurde, lebt dort mit seiner Ehefrau Naglaa. Umgeben ist er von Mubaraks alten Seilschaften.

Für Mohammed Mursi (Mitte) ist entscheidend, die wichtigsten Posten im Schaltzentrum mit eigenen Leuten zu besetzen. (Foto: Reuters)

Dass die gut 600-köpfige ehemalige Entourage des gestürzten Diktators über das mütterchenhafte Auftreten der First Lady lacht, kann dem sich bescheiden gebenden Mursi gleichgültig sein. Für ihn ist es nur von Nutzen, dass seine Frau nicht so auftritt wie einst die Mubarak-Gattin Suzanne: Naglaa ist die ägyptische Frau Jedermann. Sie ist religiös, trägt einen über Brust und Rücken reichenden Schleier, ist ein wenig drall um die Hüfte und gekleidet nach der vorvorletzten Mode.

Wichtiger als Äußerlichkeiten ist für den Islamisten Mursi, dass er die entscheidenden Posten im politischen Schaltzentrum des Landes mit eigenen Leuten besetzen und die verbleibenden Mubarak-Getreuen isolieren kann. Ägypten ist eine Präsidial-Republik, der Staatschef hat umfassende Vollmachten, und die Buchhaltung des Palasts ist ein Labyrinth, in dem zahlreiche Reptilienfonds verborgen sind, aus denen sich Zeitungsberichten zufolge weite Teile der Korruption in den 30 Mubarak-Jahren speisten. Der Staatschef verfügt über einen Fuhrpark mit 952 Autos, zwölf Flugzeugen und drei Helikoptern, über Paläste und Gästehäuser landesweit. Ferner gibt es eine Reihe inoffizieller Konten, aus denen die höheren Angestellten sich bedienten.

Weil das Militär auch nach der Präsidentschaftswahl die Macht auf kaum verhohlene Weise in den Händen hält, muss Mursi den Staatsapparat so schnell wie möglich in den Griff bekommen. Nicht nur im Palast, sondern landesweit. Ein früherer Palast-Mitarbeiter sagte dem Egypt Independent: "Der Präsident hat jedes Recht, neue Leute einzustellen. Die große Frage wird sein, ob diese Leute mit den alten Mitarbeitern zusammenarbeiten."

Scharia als Grundlage der Gesellschaft

Selbst wenn die alten Mubarak-Vertrauten verbissen mauern: Ägypten ist auf dem Weg, ein wie auch immer gearteter islamischer Staat zu werden; Muslimbrüder werden bald an den Schaltstellen des bevölkerungsreichsten Landes der arabischen Welt sitzen. Die Fundamentalisten als Gewinner der Revolution vom 25. Januar 2011 - sie hatten beim Ausbruch des Aufstands wenig riskiert, an den Wahlurnen aber reiche Ernte eingefahren - haben es sich seit 84 Jahren auf die Fahne geschrieben, dass die Beachtung der islamischen Moral die Gesellschaft bessern und die Scharia, das islamische Gesetz, Grundlage der Gesellschaft sein solle. In Ägypten mit seinen mindestens zehn Prozent Christen und seiner säkularen Minderheit findet ein Experiment statt, das auch auf die gesamte Region ausstrahlen und andere Islamisten bestärken wird - ob im Gazastreifen, in Syrien, Tunesien oder Libyen.

Wie der Muslimbrüder-Staat aussehen könnte, darüber schweigen die führenden Brüder sich aus. Ihre öffentlichen Reformversprechen erinnern mehr an Verschleierungstaktik denn an programmatische Erneuerung der Grundsätze, die der Gründer Hassan al-Banna 1928, zu Zeiten der ägyptischen Monarchie, festgelegt hat. Ihr Bekenntnis, sie wollten einen "zivilen Staat mit islamischer Komponente", ist nach der Meinung ihrer Kritiker nichts wert, solange sich nicht erweist, dass die Rechte der Christen und der Opposition gewahrt sowie die säkularen Staatsinstitutionen erhalten bleiben. Wie glaubwürdig die Muslimbrüder sind, wird sich in Ägypten also schon bald erweisen.

Anhaltspunkte gibt es. Die Brüder haben nach der Anti-Mubarak-Revolution gezeigt, dass sich bei ihnen Wort und Tat unterscheiden. Sie verkündeten, dass sie weder eine starke Fraktion im Parlament noch einen eigenen Präsidenten stellen wollen. Beides haben sie nun, auch wenn das Parlament wegen der Islamisten-Lastigkeit vom Verfassungsgericht und dem Militär gerade aufgelöst worden ist, offiziell wegen eines Fehlers im Wahlgesetz.

Auch bei der Regierungsbildung zeichnet sich ab, dass die Muslimbrüder alle Macht an sich reißen wollen. Hieß es zunächst, der vom Präsidenten zu ernennende Premierminister solle ein parteiloser Technokrat sein und das Kabinett nicht von Brüdern dominiert werden, so ist inzwischen ein hartleibiger Muslimbruder im Gespräch für dieses Amt: Khairat al-Schater, seit Jahrzehnten Mitglied der Betonfraktion in der Islamistenorganisation. Schater sollte eigentlich bei der Präsidentschaftswahl antreten, doch ein Gericht verbot ihm die Kandidatur wegen einer Gefängnisstrafe in der Mubarak-Zeit.

Der reiche Geschäftsmann hat weit mehr Einfluss in der Organisation als Mursi, der bei der Präsidentenwahl als Ersatzkandidat eingesprungen war und als Mann der zweiten Reihe gilt. Sollte Schater Premier werden, dann wäre die Gerichtsentscheidung, ihn vom Zentrum der Macht fernzuhalten, umgangen worden. Auch Mursis Versprechen, eine Frau und einen Christen zu seinen Stellvertretern zu machen, blieb bislang unerfüllt. Dennoch betonen die Brüder, mit allen Gruppen und Parteien gemeinsam regieren zu wollen: "Wir stehen mit allen politischen Kräften für dieselben Forderungen", so der Abgeordnete Khaled Deeb.

Ägyptens Islamisierung ist derzeit nicht zu stoppen

Die 19 nach dem Mubarak-Sturz im Obersten Militärrat versammelten Generäle und Admirale scheinen inoffiziell akzeptiert zu haben, dass die Islamisierung Ägyptens derzeit nicht gestoppt werden kann. Sie hoffen offenbar, die Fundamentalisten nach Vorbild des türkischen Militärs mit einer immerwährenden Putschdrohung in Schach halten zu können. Die Frage ist, ob das geht: Die Brüder haben keine Panzer, können aber die Straße mobilisieren; die Revolutionsbühne Tahrir-Platz ist inzwischen in der Hand der Islamisten.

Gegen Zehntausende oder Hunderttausende Protestierende können die Generäle ebenso wenig ausrichten wie seinerzeit Mubarak: In Ägyptens Armee dienen Wehrpflichtige, in fast jeder Familie trägt ein Sohn, Bruder oder Vetter Uniform. Diese Soldaten werden kaum auf das Volk schießen. So dürfte der lange Marsch der Muslimbrüder durch Staat und Institutionen den langsamen Rückzug der Generäle befördern.

Auf Mursi, den unfreiwilligen Herkules im Präsidentenpalast, warten aber noch größere Herausforderungen als die Säuberung des Staatsapparats von den Mubarak-Getreuen. Auf persönliche Einladung des Staatschefs hin stehen seit Tagen Hunderte Bürger vor dem Tor seines Palastes. Sie erinnern sich der Wahlversprechen der Muslimbrüder, erhoffen sich von einem persönlichen Treffen mit dem Präsidenten die Lösung ihrer Probleme: Jobs, Wohnungen, Hilfe bei Krankheit, Schuldbildung für die Kinder. Der wirtschaftliche Aufbau Ägyptens ist die wirkliche Nagelprobe für die Muslimbrüder.

© SZ vom 10.07.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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