Krieg und Demokratie:Neue Helden

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Um die Unterstützung ihrer Wähler nicht zu verlieren, versuchen demokratische Regierungen stets, die Anzahl der eigenen Kriegsopfer niedrig zu halten. Dabei kann Gelassenheit heute ein heroischer Akt sein.

T. Speckmann

Haben wir verlernt zu sterben für Volk und Vaterland? Vor allem die Europäer gelten im Zeitalter der "neuen Kriege" als unheroisch. Daher werden ihnen Niederlagen vorhergesagt. Ihre islamistischen Gegner halten sie für verweichlicht und hedonistisch verdorben. Aber auch in den westlichen Gesellschaften selbst hat sich in Medien und Politik der Eindruck verfestigt, der eigenen Bevölkerung keine größeren Opfer in gewaltsamen Konflikten zumuten zu können.

Ein Soldat auf dem britischen Militärfriedhof von Kabul. (Foto: Foto: Reuters)

Ist der Westen wirklich kriegsmüde? Die historische Statistik kommt zu einem anderen Urteil: Demokratien haben in der Weltgeschichte unzählige Kriege geführt. Doch Gesellschaften demokratischer Staaten unterstützen in der Regel nur Waffengänge zu ihrer direkten Verteidigung über einen längeren Zeitraum. Kriege hingegen, die eher den Charakter eines Angriffskrieges oder einer Intervention in entfernten Weltregionen haben, erhalten wenig oder keine Unterstützung. Das lehrt bereits das Scheitern von Athens Sizilienexpedition 415 bis 413 v. Chr. im Peloponnesischen Krieg.

Heute lehnen über fünfzig Prozent nicht nur der Deutschen, sondern auch der Amerikaner den Krieg in Afghanistan ab. Angesichts solcher Umfragewerte ist der Eindruck verbreitet, die Demokratien des Westens hätten sich früher heroischer verhalten als heute. Aber das trifft nicht zu. Um den politischen Rückhalt ihrer Wähler nicht zu verlieren, haben demokratische Regierungen immer schon versucht, die Anzahl der eigenen Kriegsopfer möglichst niedrig zu halten. Wo dies nicht gelang - wie in Frankreich während des Ersten Weltkrieges -, schwand die Bereitschaft von Soldaten wie Zivilisten, die Belastungen des Krieges durchzustehen.

Im Zweiten Weltkrieg waren die westlichen Alliierten im Gegensatz zur Sowjetunion ebenfalls bemüht, ihre Verluste zu begrenzen. Hierauf beruhte unter anderem die Entwicklung des strategischen Luftkrieges durch die Briten. Die Vereinigten Staaten haben nicht zuletzt, um eigene Opfer zu vermeiden, Atombomben zur Niederringung Japans eingesetzt. Auch der Krieg gegen Deutschland in der Luft wie zu Lande war von der Vermeidung eigener Verluste geprägt. Bei der Invasion in der Normandie 1944 überlegte das alliierte Oberkommando für einen Moment, die Landung am "Omaha Beach" abzubrechen, nachdem dort in den ersten Stunden Tausende GIs gefallen waren.

Nicht erst seit der Moderne ist die westliche Waffenentwicklung vor allem darauf ausgerichtet, die eigenen Opfer zu minimieren und die des Gegners zu maximieren. Bereits im angeblich so ritterlichen Mittelalter, dem "heroischen" Zeitalter schlechthin, setzten englische Heere mit dem Langbogen eine gefürchtete Distanzwaffe ein. Im Hundertjährigen Krieg konnten ihre Geschosse französische Ritter noch auf achtzig Meter tödlich treffen. Was den Engländern der Langbogen gegen die Franzosen war, ist heute den Amerikanern die unbemannte Drohne gegen Taliban und al-Qaida.

In der Epoche der "neuen Kriege" muss sich der Westen nicht fragen, ob er an sich heroisch ist. Er sollte sich vielmehr die Frage stellen, ob er heute vor Herausforderungen steht, die ihm Heroismus im klassischen Sinne abverlangen. Denn heroisch auf dem Schlachtfeld verhalten sich Demokratien nur dann, wenn es um das eigene Überleben geht. Glauben demokratische Gesellschaften, sie seien in ihrer Sicherheit existenziell gefährdet, dann haben sie sich bisher in Kriegen zu allem bereit gezeigt - aber eben nur dann. Für die Rückeroberung der Falklandinseln hat Großbritannien 1982 die größten Verluste der Royal Navy seit dem Zweiten Weltkrieg in Kauf genommen, für die Jahrzehnte dauernde Bezwingung der IRA tausend gefallene Soldaten.

Im Anti-Terror-Kampf seit dem 11. September 2001 hat der Westen im Vergleich zu früheren Konflikten bisher relativ niedrige Verluste daheim erlitten - trotz der Opfer von New York, Washington, Madrid und London. Daher fühlen sich vor allem in Europa nur wenige Menschen bedroht. Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise überlagert derzeit ohnehin jegliche Furcht vor islamistischem Terrorismus. Entsprechend hoch ist die Ablehnung des Afghanistan-Engagements nicht nur in Deutschland.

Auch bei Europas Nuklearmächten Frankreich und Großbritannien wächst der innenpolitische Druck auf Regierungen, die traditionell wenig zurückhaltend sind beim Einsatz des Militärs für ihre Interessen. Französische Einheiten haben in den letzten Jahrzehnten regelmäßig in Afrika interveniert. Britische Truppen sind ihren amerikanischen Kameraden selbst in den völkerrechtlich hoch umstrittenen Angriffskrieg gegen den Irak 2003 gefolgt.

Doch inzwischen sind am Hindukusch mehr britische Soldaten gefallen als am Golf. In dieser Stimmungslage werden Forderungen laut, selbst mit gewalttätigen Islamisten Gespräche aufzunehmen. Und Frankreich erlebt seit dem Tod von zehn jungen Soldaten in einem Hinterhalt der Taliban am 18. August 2008 hitzige Debatten zwischen Regierung und Opposition über Ziele und Zeitpläne des Einsatzes am Hindukusch. Die Nationalversammlung hat eine "Informations- und Evaluierungskommission" eingesetzt, um die Strategie der Nato und Frankreichs Rolle zu untersuchen und Handlungsalternativen zu entwickeln.

Das bedeutet aber nicht, dass die Europäer an sich unheroisch geworden sind. Eine essentielle Herausforderung ihrer Sicherheit könnte die europäischen Gesellschaften zu erneutem Heroismus zwingen. Auch nach dem Ersten Weltkrieg zeigte sich der Westen kriegsmüde und kämpfte im Zweiten Weltkrieg nach anfänglichen Niederlagen, die nicht zuletzt auf der eigenen Kriegsmüdigkeit beruhten, erfolgreich seine totalitären Gegner nieder.

Der oftmals vorgebrachte Einwand, in einer Zeit neuartiger terroristischer Bedrohungen durch die Proliferation von Massenvernichtungswaffen versage jede Abschreckungs- und Defensivpolitik, mag zwar analytisch auf den ersten Blick zutreffen. Er hilft aber bei der Suche nach einem von demokratischen Gesellschaften auch dauerhaft tragbaren Vorgehen nur bedingt weiter.

Heroische Gelassenheit

Im Anti-Terror-Kampf vergangener Jahrzehnte haben Europas Demokratien demonstriert, welche Form von Heroismus die Stärke des Westens gegenüber Terrorismus ist: heroische Gelassenheit. Es ist der Mut, eigene Opfer in der Heimat hinzunehmen. Ein solcher Heroismus spiegelte sich in der Haltung der britischen Bevölkerung gegenüber dem Terror der IRA, dem Verhalten der Spanier gegenüber der ETA und der Reaktion der Bundesbürger auf die Anschläge der RAF. Der terroristische Hass lief sich daheim im wahren Sinne des Wortes tot.

Mit heroischer Gelassenheit werden die westlichen Demokratien auch den heutigen Anti-Terror-Kampf bestehen: Spanien hat mit dem Prozess gegen die Täter von Madrid 2004 eine eindrucksvolle Lehrstunde von Rechtsstaatlichkeit gegeben. Angesichts der Londoner Selbstmordattentate 2005 vermied Tony Blair die Sprache des Krieges oder der Vergeltung. Stattdessen sprach er ruhig und gefasst von Polizeiarbeit und Großbritanniens Entschlossenheit, seine Werte und seine Lebensart zu verteidigen. Damit bot der britische Premierminister ein zukunftsweisendes Modell an, wie demokratische Regierungen auch auf den islamistischen Terrorismus heroisch gelassen reagieren können.

Der Autor ist Referent in der Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen und lehrt am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn. Der Beitrag gibt seine persönliche Meinung wieder.

© SZ vom 11.11.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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