Krieg im Bewusstsein der Deutschen:Verdrängtes Grauen

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Australiens letzter Veteran des Ersten Weltkriegs ist gestorben. Heute gibt es eine neue Generation von Kriegsheimkehrern. Doch traumatisierte deutsche Soldaten bekommen das Desinteresse einer Gesellschaft zu spüren, der die Lust am Militärischen ausgetrieben wurde.

Joachim Käppner

Nach dem Geheimnis seines so langen Lebens befragt, soll er gesagt haben: "Einfach atmen." Nun ist er gestorben, im biblischen Alter von 110 Jahren in einem Pflegeheim im australischen Perth: Claude Stanley Choules, der wohl letzte Mensch, der den Ersten Weltkrieg (1914 bis 1918) noch als Soldat miterlebt hatte.

Bundeswehrsoldaten vor einem Fuchs-Panzer nahe Kundus: Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte in Deutschland gegenüber allem Militärischen eine gesunde Skepsis vor - doch die ist mittlerweile umgeschlagen in Ignoranz. (Foto: Axel Schmidt/dapd)

Choules war als Jugendlicher zur britischen Marine gekommen, dem Stolz des Empires, er diente auf dem Schlachtschiff HMS Revenge. Als Soldat hat er die Selbstzerstörung jenes "stolzen Turms" erlebt, wie die Historikerin Barbara Tuchmann das Europa der Vorkriegszeit genannt hat.

Binnen Minuten ausgelöscht

Der Erste Weltkrieg war ein Krieg neuen Typs. 1914 waren noch stolze Kavalleristen wie die Pommerschen Ulanen unter den ausrückenden Soldaten, von jubelnden Mädchen mit Blumen geschmückt. Die meisten kehrten niemals heim.

Nie hatte ein Krieg in so kurzer Zeit so viele Menschenleben verschlungen wie dieser, in dem die Generäle Millionen Soldaten sinnlos anrennen ließen gegen Stacheldrahtverhaue, Artillerie und Maschinengewehre.

Der britische Historiker John Keegan beschreibt in dem Buch Das Antlitz des Krieges, wie britische Infanteristen zum Sturm auf die deutschen Schützengräben ausrückten, mit siegesgewissen Gesichtern, manche winkten den Zurückgebliebenen zu. Sie gerieten in das Kreuzfeuer versteckter Maschinengewehre und "wurden binnen weniger Minuten fast ausgelöscht, Linie nach Linie gefallener Männer".

Tapferkeit kam nicht gegen Technik an. Als "Blutpumpe" bezeichnete der deutsche General Erich von Falkenhayn ungerührt seine Angriffsstrategie bei Verdun; auch sie schlug fehl.

Der "Große Krieg", wie man nach 1918 - und vor 1939 - noch sagte, hat das ganze Jahrhundert dominiert. In Frankreich und England wich der Triumph des Sieges der Verzagtheit und der Furcht, je wieder eine Generation auf den Feldern des Kriegs verbluten sehen zu müssen. Im Schatten dieser Angst wuchs der Hass der Besiegten. In Deutschland vergiftete der Krieg die Gesellschaft, die Politik, die Weimarer Republik.

Ernst Jünger, der noch heute so gern gefeierte Schriftsteller, mochte mit dem Pathos eines unreifen Knaben formulieren, aber er traf den bösen Geist der Zeit, als er, der Frontsoldat, der Demokratie "allgemeine Nichtswürdigkeit" bescheinigte und prahlte: "Ein neuer, stahlharter Typ von Menschen tritt in die Gegenwart."

Die Rechte hatte es geschafft, den Demokraten die Schuld an der Niederlage in die Schuhe zu schieben, obwohl die Militärs des Kaisers - wie der spätere Reichspräsident Paul von Hindenburg - sie verursacht hatten.

Ein Versklavungs- und Vernichtungskrieg

Als "Rächer" des verlorenen Krieges und seiner Soldaten kam Hitler an die Macht und bereitete sogleich einen Krieg vor, der den Ersten als herkömmlichen Konflikt zwischen Nationen erscheinen ließ; es wurde ein Versklavungs- und Vernichtungskrieg, wie er 1914 bis 1918 unvorstellbar gewesen wäre. Das Gift entfaltete nun seine volle Wirkung, und am Ende, 1945, war auch Deutschland eine Trümmerstätte, niedergeworfen, zerteilt, besiegt.

Der Publizist Peter Bender hat einmal geschrieben: So grausam das sei, nur durch "den bitteren Kelch der totalen Niederlage", die anders als 1918 keine verklärenden Mythen und keine Revanche mehr zuließ, konnte Deutschland so völlig mit seiner Vergangenheit brechen - und damit auch mit seinem Bild vom Kriege.

Für Schüler von heute sind Verdun und Stalingrad so weit weg wie die Schlacht von Waterloo 1815. Noch in den siebziger Jahren war das anders, wenn 14-Jährige zum Schüleraustausch nach Cannes reisten und der Großvater, Jahrgang 1896, verständnislos den Kopf schüttelte. Er hasste Frankreich, so wie die Franzosen ihn und seine Generation gehasst hatten; er hatte von 1915 an drei Jahre an der Westfront gekämpft.

Zwischen den Welten der Alten und den der Enkel lag ein Universum. Und doch ist die Zeit kaum merklich verklungen, in der alte Männer noch berichteten, wie es war - das große Sterben in Flandern oder die Meuterei gegen die Admirale 1918.

Nun neigt sich sogar die Zeit der letzten Augenzeugen des Zweiten Weltkriegs dem Ende zu. Anders als Briten und Amerikaner ihres Alters konnten sie nie die Geschichte eines gerechten Krieges erzählen und sich als Helden feiern lassen, wie das beim "Battle of Britain Day" oder den alliierten Feiern zur Landung in der Normandie geschieht. Die Deutschen hatten, nolens oder volens, für die schlechteste Sache gekämpft, für die je Soldaten ins Feld gezogen waren.

Wenn sich bald der Überfall auf die Sowjetunion vom 22. Juni 1941 und damit der Beginn einer nie dagewesen Brutalisierung des modernen Krieges zum 70. Mal jährt, werden nur noch wenige Veteranen am Leben sein. Das Interesse an dem, was sie zu sagen haben, war zuletzt in dem Maße gestiegen, in dem der Krieg zurückliegt - ein Paradox. Heute notieren Geschichtswerkstätten und Oral-History-Forscher noch eilig die Erinnerungen der letzten Augenzeugen, deren eigene Kinder noch unwillig abgewunken hatten, wenn der Vater mit dem Krieg daherkam.

Deutschland ist, aus guten Gründen, nach 1945 zu einem gänzlich unmilitärischen Land geworden; die Omnipräsenz wie der Nimbus der Uniform im Alltagsbild der Straßen blieb auch nach Gründung der Bundeswehr 1955 für immer verschwunden. Sie mochte der Nato ein Heer von fast einer halben Million Soldaten stellen, das waren fünfmal mehr als die Reichswehr der Weimarer Republik. Doch den Ton gaben sie, dem Primat der Politik unterworfen, nicht mehr an.

"Freundliches Desinteresse" gegenüber dem Militär

Heute führt Deutschland einen Krieg, aber scheut sich, ihn so zu nennen; es schickt Soldaten in gefährliche Einsätze, und manche von ihnen kommen in Särgen zurück. Doch Afghanistan ist weit fort, irgendwo, wie Goethe über die Weltsicht des Kleinbürgers gespottet hatte, "dort hinten, wo die Völker aufeinander schlagen".

Die Zeit der Weltkriegsveteranen verklingt. Doch es gibt neue Veteranen, noch junge, von ihren Erlebnissen gezeichnete Männer.

Manche von ihnen sitzen in psychiatrischen Kliniken oder nehmen Antidepressiva gegen posttraumatische Belastungsstörungen, weil sie die Bilder ihrer Kameraden nicht vergessen können, die ein Attentäter in die Luft gesprengt hatte. Andere müssen mit der Bundeswehr einen Papierkrieg um Versorgungsansprüche führen.

Aber die Gesellschaft interessiert sich nicht dafür. Sie hat, aus guten Gründen, nach zwei Weltkriegen vom Militärischen nichts mehr wissen wollen. Jetzt schlägt eine gesunde Skepsis um in Ignoranz. Deutschland behandelt seine Soldaten, wie der frühere Bundespräsident Horst Köhler gesagt hat, "mit freundlichem Desinteresse".

Für eine Generation von Soldaten, die nicht wie ihre Vorväter gegen, sondern für Frieden und Freiheit ihr Leben riskiert, ist das eine verstörende Erfahrung.

© SZ vom 06.05.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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