Kirgistan:Aus den Ruinen an die Urnen

Lesezeit: 3 min

Kirgistan stimmt für eine neue, demokratische Verfassung. Doch der Hass der vergangenen Wochen untergräbt die Hoffnung auf Einigkeit.

Sonja Zekri

Unter dem Schutz von 8000 Polizisten hat in Kirgistan am Sonntag mehr als die Hälfte der 2,7Millionen Wahlberechtigten über eine neue Verfassung abgestimmt. Nach Angaben der Übergangsregierung fiel das Votum positiv aus. "Das Volk hat einen dicken Schlussstrich unter die autoritär-familiäre Führung der beiden früheren Präsidenten gezogen", sagte Übergangspräsidentin Rosa Otunbajewa nach Angaben der Agentur Akipress. Damit werde Kirgistan als einziges Land in Zentralasien als parlamentarische Republik geführt. Die Zentrale Wahlkommission gab an, die Wahlbeteiligung habe bei etwa 67 Prozent gelegen. In Dschalalabad, einem Schauplatz der jüngsten ethnischen Unruhen, seien die Menschen "mit Tränen in den Augen" aus dem Wahllokal gekommen, sagte der Bürgermeister der Stadt, Maksat Scheenbekow. Ein Quorum für die Gültigkeit der Abstimmung hatte es nicht gegeben.

In Kyzyl Birlik nahe der Hauptstadt Bischkek gibt ein alter Kirgise seine Stimme im Referendum für die neue Verfassung ab - ihm wurde die mobile Wahlurne aufs Feld gebracht. Viele Usbeken, die sich nach den Ausschreitungen der vergangenen Wochen nicht mehr auf die Straße trauen, wählten gar daheim im Schutz der eigenen vier Wände. "Wir sind ein einiges Land, ein einiges Volk", hatte Übergangspräsidenten Rosa Otunbajewa gesagt, aber an der Einigkeit der Ethnien gibt es derzeit begründeten Zweifel. (Foto: rtr)

Otunbajewa hat im Wahllokal 298 in der Staatlichen Universität in Osch ihre Stimme abgegeben. Es war ein demonstrativer Besuch, ihr zweiter seit den Ausschreitungen Mitte Juni - und er sollte Hoffnung verbreiten, aber auch den Machtanspruch ihrer in den Augen vieler Kritiker bereits angezählten Regierung verdeutlichen. Die Abstimmung werde der ganzen Welt beweisen, dass Kirgistan ein "einiges Land", ein "einiges Volk" sei, sagte Otunbajewa.

Aber noch immer ragen in Osch viele vor allem von Usbeken bewohnte Häuser als verkohlte Ruinen zwischen meist intakten Gebäuden der Kirgisen empor. Noch immer ist die Zahl der Opfer nicht bekannt. Knapp 300 Tote sind identifiziert, Otunbajewa sprach von 2000. In Osch und in Dschalalabad exhumieren Untersuchungsbeamte inzwischen die nach islamischer Sitte schnell begrabenen Leichen, um wenigstens in dieser Frage Klarheit zu erlangen.

Denn wie die Unruhen vor zwei Wochen begannen, ist nach wie vor unklar. Verschiedene Quellen berichten von einem Streit unter Taxifahrern, dem eine Schlägerei folgte, bis schließlich Usbeken und Kirgisen mit einer Grausamkeit übereinander herfielen, die selbst langjährige Beobachter schockierte. Frauen und Mädchen wurden vergewaltigt. Und obwohl die Usbeken insgesamt mehr litten als die Kirgisen, weiß man auch von Gewalttaten wie im Bezirk Basar-Korgon bei Dschalalabad, wo ein usbekischer Mob eine Gruppe Polizisten in die Flucht schlug und Polizeihauptmann Myktybek Sulaimanow, der sich als einziger nicht retten konnte, totschlug und verbrannte. Externe Kräfte - Drogenbosse oder Anhänger des gestürzten Präsidenten Kurmanbek Bakijew - mögen diesen Hass geschürt, einzelne Gruppen bewaffnet und Heckenschützen angeheuert habe. Ohne die Wut mancher Usbeken, die wohlhabender als die Kirgisen, aber politisch marginalisiert sind, und ohne das Ressentiment mancher Kirgisen, die im Süden wirtschaftlich schlechter dastehen als die usbekischen Händler, hätte niemand das Blutbad entfesseln können.

Umso erstaunlich ist deshalb, dass Rosa Otunbajewa die ethnischen Spannungen einzig als Folge auswärtiger Provokationen abtut und auch nach der Stimmabgabe in Osch die Einheit eines Volkes beschwor, dessen unterschiedliche Gruppen sich noch vor zwei Wochen mit Macheten zerhackt haben. Manche Beobachter hatten sie nach dem Sturz Bakijews als Kompromisskandidatin gewertet, die beste Kontakte zu westlichen Geberländern aufrechterhalten sollte, aber im Inneren keinem der männlichen Konkurrenten auf Dauer in die Quere kommen würde. Ähnlich äußerte sich auch Bakijew in einem Spiegel-Interview. Otunbajewa sei "leichtfertig und verantwortungslos, wie eine Frau eben".

Russland, Amerika und die Vereinten Nationen hatten auf die Abstimmung gedrungen, um Otunbajewa ein Minimum an Legitimität zu verschaffen. Die neue Verfassung - Kirgistans siebte seit der Unabhängigkeit von der Sowjetunion - weist dem Parlament eine größere Kontrolle über den Präsidenten zu, der nur einmal auf sechs Jahre gewählt werden darf und vom Parlament seines Amtes enthoben werden kann. Das bisherige Parlament hatte Otunbajewa nach dem Sturz Bakijews aufgelöst, weil es mit der absoluten Mehrheit von Bakijews Ak-Schol-Partei als Marionettenparlament für die Interessen der regierenden Familie galt. Die neue Konstitution untersagt, dass eine Partei mehr als 55 Prozent der Sitze haben darf. Zudem sind religiöse und ethnische Parteien nicht zugelassen. Russisch wird als zweite offizielle Sprache anerkannt, nicht aber Usbekisch, dabei leben inzwischen weit mehr Usbeken als Russen in Kirgistan - ein Schritt, der die Usbeken erneut enttäuschen dürfte.

Während optimistische Stimmen dennoch davon ausgehen, dass Kirgistan, wo sowohl die USA als auch Russland Militärstützpunkte unterhalten, als parlamentarische Demokratie ein Modell für das autoritär regierte Zentralasien sein könnte, zweifeln andere Experten an den Chancen des Experimentes. Kirgistan sei eine Gesellschaft ohne parlamentarische Erfahrung, deren politische Landschaft sich nach Sippe, Ethnie und Herkunft strukturiere, nicht nach übergeordneten Interessen. In Zeiten der Instabilität könnten zudem mächtige, finanzstarke Kräfte die neuen parlamentarischen Freiheiten für ihre Interessen nutzen.

Scheitern Otunbajewa und die säkulare Regierung, könnten zudem islamistische Organisationen vor allem unter den Jugendlichen Zulauf erhalten, warnen Politologen. Beides, ein Anstieg des Nationalismus oder des Islamismus, wäre keine vielversprechende Prognose.

© SZ vom 28.06.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: