Jugendproteste in Europa:Steht auf, wenn ihr eine Zukunft wollt

Immer mehr junge Menschen gehen in ganz Europa auf die Straßen. Meist läuft das friedlicher ab als vor kurzem in Großbritannien. Aber eines eint die britischen Ausschreitungen mit den überall in Europa aufflammenden Protestbewegungen: das Gefühl, hoffnungslos abgehängt zu sein.

Alex Rühle

So unterschiedlich die Benennungen sind, immer betonen sie ein Defizit: In Portugal heißt die Generation der gut ausgebildeten Jungakademiker, die sich von der Politik zunehmend ausgegrenzt fühlen, "Geração à rasca", Generation in der Klemme. Die jungen Franzosen, die noch bei den Eltern wohnen müssen, weil sie kein Geld haben, um auf eigenen Beinen zu stehen, heißen "Adulescents". Und in Athen heißen die 20- bis 30-Jährigen, die sich mehr schlecht als recht durchhangeln, "Generation 700". Alle zusammen bezeichnen sich gerne nach Stéphane Hessels kleiner Schrift "Indignez-Vous!" "die Empörten".

15 M ACTIVISTS DEMONSTRATE

Protest in Madrid: Polizisten hindern junge Spanier daran, den Platz Puerta del Sol zu betreten.

(Foto: dpa)

Nun kann man diese Protestbewegungen, die mit ihren Arbeitsgruppen, Demonstrationszügen und basisdemokratischen Vollversammlungen teilweise wie Attac-Sommercamps wirken, nicht mit den marodierenden Banden in England gleichsetzen. In der Zeltstadt auf der Madrider Puerta del Sol haben Studenten und Akademiker politische Forderungskataloge erarbeitet. Die Vermummten, die nachts durch die zerbrochenen Schaufenster der Londoner Geschäfte huschen, artikulieren sich hingegen nicht.

So erinnern die britischen Ausschreitungen auch eher an die Unruhen in den französischen Banlieues 2005 oder an die Gewaltausbrüche in Athen 2008 als an die Zeltstädte in Tel Aviv oder Madrid. Es war ein völlig stummer Aufstand, kein einziges Banner wurde geschwenkt, niemand fühlte sich als Sprachrohr, die Gewalt verbreitete sich wie ein Brandsatz, rasend schnell, unkontrolliert, in alle Richtungen - aber ohne dass sie in die reichen Viertel oder vor die Parlamente getragen worden wäre. Im Gegenteil, die marodierenden Jugendlichen wüteten jeweils in den Gegenden, in denen sie selbst zu Hause sind, sie zerstörten die eigene, ohnehin kärgliche Infrastruktur und suchten sich als Opfer die eigenen Nachbarn aus.

Etwas anderes aber eint die britischen Ausschreitungen mit den überall in Europa aufflammenden Protestbewegungen. Es ist das Gefühl, hoffnungslos abgehängt zu sein, als Generation am stärksten von der Krise betroffen zu sein, ein Gefühl, das durch die neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes unterfüttert wird: In Irland und Italien sind offiziell mehr als ein Viertel der unter 25-Jährigen ohne Job, in Griechenland lag die Jugend-Erwerbslosenquote im März bei 38,5 Prozent, in Spanien ist sogar fast jeder zweite Jugendliche ohne Arbeit.

Wohlgemerkt, das sind die offiziellen Zahlen, die oftmals geschönt sind. In Großbritannien ist die Jugendarbeitslosigkeit seit Ausbruch der Finanzkrise um 40 Prozent gestiegen, in Tottenham, wo die Krawalle ihren Ursprung hatten, kommen auf einen neuen Arbeitsplatz 57 Stellensuchende. Das soll die destruktiven Plünderungsattacken nicht entschuldigen. Es geht nur darum zu zeigen, dass diese apolitischen Aktionen zumindest teilweise ähnliche sozialpolitische Ursachen haben wie die friedlichen Proteste in Spanien oder Israel.

Gegen Machtkartell und Marionetten

Viele der lange schon schwärenden Konflikte konnten in einigen Ländern lange kaschiert werden. Durch die Krise aber werden die Probleme nach außen gestülpt: In Italien, Spanien oder Portugal konnten die Eltern die erwachsenen Kinder bis vor kurzem durchfüttern. Jetzt, wo die Renten und Zuschüsse gekürzt werden und die Mieten explodieren, werden auch diese privaten sozialen Netze immer dünner - mit der Folge, dass in den Mittelmeerländern die am besten ausgebildete Generation ihrer Geschichte wortwörtlich auf der Straße steht.

Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes belegen auch, in welch tiefe Krise das europäische Gesellschaftsmodell gerutscht ist - wenn man die Jugend nicht mehr ausbildet oder integriert, welche Zukunft bleibt dann noch für einen Kontinent, der immer älter wird? Der Generationenkonflikt, in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität ein Ausdruck für unterschiedliche Weltbilder und Wertvorstellungen, ist zum handfesten wirtschaftlichen Konflikt geworden. Das Gefühl, bluten zu müssen für die jahrzehntelange Überschuldung ihres jeweiligen Landes und selbst nie mehr in den Genuss des Sozialstaates zu kommen, der der Elterngeneration ein angenehmes Leben bescherte, gibt den Protesten einen großen Teil seiner Wucht.

Damit hängt auch die radikale Abwendung vom etablierten Politikbetrieb zusammen. Ob nun Spanien, Griechenland oder Portugal, die Repräsentanten der Volksparteien werden - so sie versuchen, sich einzumischen - ausgepfiffen und verunglimpft als Besitzstandswahrer, "Funktionäre eines abgehobenen Machtkartells", wie es an der Puerta del Sol hieß, oder, wie an der Pariser Bastille, als "Marionetten des internationalen Finanzkapitalismus".

Politiker in Deutschland haben in der vergangenen Woche auffällig schnell erklärt, warum es hierzulande nicht zu ähnlichen bürgerkriegsähnlichen Zuständen kommen könne wie in London. Nun unterscheidet sich Deutschland in einigen Punkten tatsächlich grundlegend von Großbritannien. Es wird mehr Wert auf Präventionspolitik gelegt als in England oder auch Frankreich, wo der Staat mittlerweile völlig resigniert zu haben scheint und viel stärker auf Überwachung und Kontrolle setzt als auf soziale Integration.

Es gibt längst nicht so starke Ghettobildung wie etwa in den Banlieues oder einigen britischen Sozialsiedlungen. Vor allem aber verzeichnet Deutschland - abgesehen von den Niederlanden und Österreich - die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit Europas, was vielleicht erklärt, warum es auch noch keine Zeltlager in den Zentren der Städte gibt.

Der stille politische Protest ist hierzulande freilich ähnlich groß wie in anderen Ländern. Laut der Shell-Jugendstudie lag die Wahlbeteiligung der 18- bis 25-Jährigen in den vergangenen zehn Jahren bei knapp über 50 Prozent, mit sinkender Tendenz. Man möchte deshalb lieber nicht wissen, was passiert, wenn die Weltwirtschaftskrise den deutschen Arbeitsmarkt erreicht - und damit auch zuallererst die Alterskohorte, die hierzulande in den vergangenen zehn Jahren "Generation Praktikum" hieß.

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