Jörg Tauss führt durch den Reichstag:Piraten im Zentrum der Macht

Der frühere SPD-Politiker Jörg Tauss führt die Piraten in den Bundestag - wenn auch nur für zweieinhalb Stunden. Dafür vergessen die Freibeuter kurzfristig sogar ihre Prinzipien.

Michael König, Berlin

Der Zugang zur Macht ist für Piraten eine Zumutung. Name, Vorname, Geburtsdatum und Geburtsort werden registriert. "Das ist das erste Mal seit drei Jahren, dass ich meinen realname angebe", sagt der "DreisamPirat". So heißt er bei Twitter. Er ist extra aus Freiburg angereist. Jetzt steht er im Eingang des Paul-Löbe-Hauses in Berlin. Umgeben von Kameras und von Sicherheitsbeamten, die seinen Körper nach metallischen Gegenständen abtasten.

Jörg Tauss führt durch den Reichstag: Die Piratenpartei will den Bundestag erobern.

Die Piratenpartei will den Bundestag erobern.

(Foto: Foto: dpa)

Die Piratenpartei ist gegen Überwachung, aber ihr einziger Bundestagsabgeordneter zuckt mit den Schultern: "Tut mir leid, so sind die Bestimmungen", sagt Jörg Tauss. Niemand beschwert sich. Sie sind nicht die Ersten, die sich von Prinzipien verabschieden, um hier Zutritt zu bekommen.

Tauss wird nicht durchsucht. Er wird mit Handschlag begrüßt, er genießt die Privilegien eines Mitglieds des Bundestages. Noch. Ende Oktober endet die Legislaturperiode, dann wird Tauss nicht mehr dazugehören. Bis dahin arbeitet er weiter - und führt Besuchergruppen durch den Reichstag. Heute sind etwa 50 Piratenmitglieder und -anhänger seiner Einladung gefolgt, die er beim Internet-Kurznachrichtendienst Twitter veröffentlicht hat.

Tauss war mal der Internetexperte der SPD. Am 20. Juni 2009 hat er sein Parteibuch abgegeben und ist zur Piratenpartei gewechselt. "Vor allem wegen Zensursula", sagt er. So nennen die Piraten die Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU). Aber auch wegen der Anklage, die die Staatsanwaltschaft Karlsruhe gegen ihn erhoben hat. Wegen des Besitzes von kinderpornografischem Material. Er habe es zu Recherchezwecken gebraucht, sagt Tauss. Er geht offensiv mit dem Thema um. Die Piraten nicken und schweigen, wenn er darüber spricht.

Für sie gibt es drängendere Fragen. Etwa: "Wo kann man hier Laptops anschließen?" Tauss verweist auf kleine Öffnungen, die in die Tischplatten eingelassen sind. Er ist mit den Piraten in den Saal des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung gegangen. Tauss sitzt auf dem Stuhl des Vorsitzenden. "Im Innenausschuss haben sie keine Steckdosen für Computer. Aber die Mitglieder wüssten auch nicht recht, wie man einen anschaltet", sagt er. Seine Besucher lachen laut.

Viele tragen T-Shirts mit dem Logo der Piratenpartei. Sie haben sich zuvor bei Tauss erkundigt, ob das in Ordnung geht. Der Politiker erlaubt ihnen auch, Fotos zu schießen. Es dauert keine fünf Minuten, dann stehen bei Twitter die ersten Bilder online. Jeder zweite Pirat hat ein iPhone in der Tasche. Nur ein Viertel sind Frauen.

Ein Mann mit grauen Haaren sticht optisch deutlich hervor. Er ist 49 Jahre alt und begleitet seinen Sohn, erzählt er im schwäbischen Dialekt. Ihn erinnere das alles an den Aufstieg der Grünen in den achtziger Jahren: "Damals wie heute fehlt das Zünglein an der Waage. Vielleicht sind die Piraten ja diesmal diejenigen, die uns zurück auf den rechten Weg bringen."

Weiter geht es zum Reichstag. Tauss führt die Gruppe durch den unterirdischen Verbindungstunnel. Der DreisamPirat geht dicht neben dem Politiker. Sie kennen sich von einer Wahlkampfveranstaltung. "Wir haben in Freiburg mit vier Mitgliedern angefangen. Mittlerweile sind es 60 und 120 aktive Helfer", sagt er. Der Altersdurchschnitt liege bei etwa 29 Jahren. Sind das alles Computerfreaks? "Wir haben mittlerweile auch Handwerker und Alt-68er dabei. Die merken gerade, wie viel Spaß Politik machen kann", sagt er.

"Sind diese Räume eigentlich abhörsicher?"

Jörg Tauss hört das gerne. Auch er habe noch Spaß an Politik, sagt er. Trotz allem. Er führt die Gruppe in den Fraktionsraum der SPD und setzt sich auf den Platz, der normalerweise Peter Struck vorbehalten ist. "Was haben wir uns angeblafft, der Struck und ich", erzählt er. "Du machst doch eh, was du willst", habe der Fraktionsvorsitzende ihm hinterher gerufen, als Tauss den Saal verließ. Es war Tauss' letzter Auftritt in der Fraktion. Kurz darauf hat er die Partei verlassen.

Es ging in dem Streit um die Netzsperren, die von den Befürwortern als Schutz vor kinderpornografischen Inhalten gesehen werden. Für die Piraten bedeuten sie Zensur und Freiheitsberaubung. "Zensursula" nennen sie Ministerin Ursula von der Leyen (CDU), die das Gesetz initiiert hat. "Zensursula" ist ihr Feindbild. Jörg Tauss ist ihr Held.

Einst hat er für die Erhöhung des BAföG gestritten und für bessere Bildung in Deutschland. Tauss wirkt wehmütig, wenn er davon erzählt, wie er einmal Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) ausgetrickst hat, um eine Finanzierung zu stemmen. Er sagt oft "wir", wenn er von der SPD und sich spricht. Er erzählt von "vielen privaten Freundschaften", die ihn noch immer mit den Sozialdemokraten verbänden.

Er wandelt an der Grenze zur Gefühlsduselei, bis ihn die Frage eines Piraten auf den Boden der Realität zurückholt: "Sind diese Räume eigentlich abhörsicher?" Nein, sagt Tauss: "Da sind selbst die Toiletten besser geschützt."

An den Toiletten vorbei geht es in Richtung des Balkons, auf dem Philipp Scheidemann die Republik ausgerufen hat - im Jahr 1918, am 9. November. "Der deutsche Schicksalstag", sagt Tauss und zählt auf: Hitlers Putsch 1923, Reichspogromnacht 1938 und Mauerfall 1989. Ein langhaariger Pirat meldet sich zu Wort: "Sie haben noch etwas vergessen: Das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung am 9. November 2007." Tauss muss lachen: "Daran habe ich noch gar nicht gedacht."

Der Rundgang dauert nun schon fast zwei Stunden. Das jüngste Mitglied der Besuchergruppe, ein 14 Jahre alter Schüler, legt sich in der Lobby des Bundestags auf ein Sofa und gähnt. "Bis jetzt hatte ich in Gemeinschaftskunde eine Vier auf dem Zeugnis", erzählt er. Weil er seit kurzem Mitglied bei den "Jungen Piraten" sei, der Jugendorganisation der Piratenpartei, werde sich "das aber hoffentlich bald ändern."

Das Zeugnis für Jörg Tauss ist schon geschrieben, bevor die Legislaturperiode zu Ende ist. Die Kinderporno-Vorwürfe wiegen schwer. Der Bundestag hat seine Immunität aufgehoben. Er sagt, es sei deshalb unmöglich, noch einmal auf die Berliner Bühne zurückzukehren. Er wolle in Zukunft wieder als Gewerkschaftler arbeiten.

In seiner Heimatstadt verteilt er Briefe, in denen er zu der Kinderporno-Angelegenheit Stellung nimmt. Auf der Rückseite erklärt er den Leuten, was die Piratenpartei ist. "Auf dem Land erreiche ich die Leute nicht so gut über das Internet", sagt Tauss.

Er verabschiedet seine Besucher auf dem Dach des Reichstages, die Führung ist jetzt vorbei. "Man twittert sich", sagt Tauss zum Abschied. Die Piraten bleiben noch eine Weile, knipsen Fotos. Der "DreisamPirat" aus Freiburg hat das iPhone gezückt: "Bin ins Zentrum der Macht vorgedrungen", twittert er. Und dass er gleich noch mit Tauss etwas trinken gehen wird.

"Ohne Tauss hätten wir sicher weniger Aufmerksamkeit, aber er ist trotzdem ein ganz normales Mitglied", sagt der Pirat. Und die Kinderporno-Affäre? "Wenn er verurteilt wird, verlässt er die Partei. Das hat er uns versprochen. Und bis jetzt hat er uns nicht mehr geschadet als Dienstwagenaffäre der SPD."

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