Japan:Enkel mit Mission

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Japans Premierminister Shinzo Abe möchte, dass sein Land ein gleichberechtiger Partner der USA wird. (Foto: Jiji Press/AFP)

Japans Premier Shinzo Abe will nach dem Wahlsieg seiner Koalition die pazifistische Verfassung ändern.

Von Christoph Neidhart, Tokio

Japans Verfassung sei die beste von allen, pflegte Beate Sirota zu sagen. Als "einzige Frau im Raum", so der Titel ihrer Memoiren, hat die in Wien geborene, in Tokio aufgewachsene Tochter eines jüdischen Pianisten aus Kiew als 22-Jährige am Entwurf für die gegenwärtige japanische Verfassung mitgearbeitet. Sie schrieb jene drei Paragraphen, die sich um Frauen und die Familie drehen. Viele Japanerinnen verehrten Beate-san, wie sie die 2012 verstorbene Amerikanerin nannten, sie habe ihnen die Gleichberechtigung geschenkt - zumindest im Gesetz.

Dass Amerikaner den Entwurf für die Verfassung schrieben, blieb bis in die 1970er Jahre geheim

Japans Vorkriegs-Verfassung hatte die Frauen den Haustieren, Kindern und Sachen gleichgestellt. Diese "beste Verfassung" will Premier Shinzo Abe nun umkrempeln. Mit dem Wahlsieg bei den Oberhauswahlen am Sonntag, der seiner Koalition mit Unterstützung zweier Splitterparteien eine Zweidrittelmehrheit brachte, scheint dieses Ziel greifbar zu sein.

Bald nach Japans Kapitulation 1945 verlangte General Douglas MacArthur, der Oberbefehlshaber der US-Besatzungstruppen, Japan brauche eine liberale Verfassung. Die Entwürfe der Regierung wichen jedoch kaum von der alten ab. Anfang Februar 1946 verlor MacArthur die Geduld und setzte ein eigenes Team ein, das eine Verfassung aufsetzen sollte: auf Englisch und in nur sieben Tagen.

Beate Sirota, während des Krieges in Kalifornien auf dem College, war kurz zuvor nach Japan zurückgekehrt, um in der politischen Abteilung von MacArthur zu arbeiten, vor allem aber, um ihre Eltern zu suchen. Sie war die erste Zivilistin, die nach Japan einreisen konnte. Dass sie in die geheime Gruppe abkommandiert wurde, die die Verfassung entwerfen sollte, überraschte sie: "Niemand von uns war darauf vorbereitet, eine Verfassung zu schreiben", erzählte sie der Süddeutschen Zeitung im Jahr 2008.

MacArthur machte der Gruppe nur drei Vorgaben, die als "MacArthur-Note" in die Geschichte eingegangen sind: Der Kaiser sollte Japans Staatsoberhaupt bleiben. Zweitens müsse Japan auf das souveräne Recht einer Nation verzichten, Krieg zu führen. Es dürfe nie wieder eine Armee, Marine oder Luftwaffe unterhalten. Daraus ist der sogenannte Friedens-Paragraph hervorgegangen. Drittens müsse das Feudalsystem abgeschafft werden. Den Shintoismus, den die alte Verfassung zur Staatsreligion erklärt hatte und für den Japan in den Krieg gezogen war, hatte MacArthur bereits zuvor entmachtet. "Wichtiger als die drei Paragraphen, die ich schrieb", so Sirota, "war meine Idee, viele Verfassungen liberaler Demokratien aus den Bibliotheken zu holen. Wir wussten ja nicht, was in eine Verfassung gehört." Eigentlich habe das Team keine Verfassung geschrieben, sondern sie aus diesen Beispielen eine kondensiert, so Sirota. Deshalb sei es die beste Verfassung. Die japanische Regierung hat den übersetzten Text diskutiert, adaptiert und demokratisch legitimiert.

Das neue Regelwerk definiert nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten für die Bürger

Dass der Entwurf von Amerikanern verfasst worden war, blieb offiziell bis in die 1970er-Jahre geheim. Unabhängig vom Inhalt der Verfassung stellen Japans Rechte es als nationale Schande dar, dass diese von Ausländern verfasst worden ist. Schon Nobusuke Kishi, Regierungschef von 1958 bis 1960, der Großvater des heutigen Premiers, der natürlich wusste, woher die Verfassung kam, versuchte, sie zu verändern. In den 1930er Jahren ein mächtiger Besatzungsfunktionär in der Mandschurei, Nippons Kolonie im heutigen Nordosten Chinas, und während des Krieges Munitionsminister, hat Kishi den Pazifismus-Paragraphen nie akzeptiert. Die Liberaldemokratische Partei (LDP), zu deren Gründern er gehörte, erklärte seine Abschaffung seit ihren Anfängen 1955 zu ihrem Ziel.

Abe verehrt seinen Großvater, den die USA drei Jahre lang als Kriegsverbrecher festgehalten hatten, ohne ihm aber den Prozess zu machen. Als Enkel und Nachfolger will er Kishis Werk vollenden, die Verfassungsänderung ist ihm ein persönliches Anliegen. Vor allem die Abschaffung des Pazifismus-Paragraphen, an dem allerdings die Mehrheit der Japaner festhält. Fast wortwörtlich argumentiert er mit Kishi, nur mit einer normalen Armee könne Japan den USA ein gleichberechtigter Partner sein.

Vor zwanzig Jahren versuchten Politiker um den damaligen Oppositionsführer Ichiro Ozawa den Friedens-Paragraphen abzuändern, damit Japan an UN-Einsätzen teilnehmen könne. Sie wollten Japan internationalisieren, Abe dagegen träumt von einem militärisch starken nationalistischen Japan. Seine LDP hat einen Verfassungsentwurf publiziert, der den Pazifismus-Paragraphen aushöhlt und die vom gegenwärtigen Grundgesetz garantierten Menschenrechte relativiert. Er verpflichtet die Bürger, ihre Rechte nur fürs Gemeinwohl zu nutzen und beschränkt ihre Meinungsfreiheit. Außerdem enthält er einen Notstands-Paragraphen, der es dem Premier erlaubt, die Verfassung im Falle äußerer Bedrohungen, Naturkatastrophen oder sozialer Unruhen auszusetzen.

Der Entwurf definiert nicht nur Rechte, die den Bürger vor dem Staat schützen, sondern einmalig für eine Verfassung auch Pflichten, die der Bürger dem Staat gegenüber habe. An die Vorkriegsverfassung erinnert weiter, dass nicht das Individuum "die Grundeinheit der Gesellschaft" sei, sodern die Familie. Katsuya Okada, Parteichef der am Sonntag gedemütigten Demokraten, hat gewarnt, Abe verstehe die Funktion einer Verfassung nicht. Bei den Wähler stieß er damit allerdings kaum auf Echo.

© SZ vom 12.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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