70 Jahre Massaker von Katyn:Stalins Morde, Putins Geste

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Russlands Regierungschef gedenkt des 70. Jahrestages des Massakers von Katyn - ein versöhnliches Zeichen an Polen. In Russland selbst sind Stalins Verbrechen ein schwieriges Thema.

Frank Nienhuysen, Moskau

Es ist allein schon eine Geste, ein mächtiges Symbol. Russlands Ministerpräsident Wladimir Putin hat seinen polnischen Kollegen zu einer gemeinsamen Reise gebeten, und Donald Tusk nahm sie gern an. An diesem Mittwoch treffen sich die beiden Regierungschefs im westrussischen Katyn auf einer gemeinsamen Trauerfeier, um der Opfer des Massakers vor 70 Jahren zu gedenken.

Die Sowjets erschossen damals in Katyn und anderen Orten 22.000 polnische Offiziere, Polizisten und Zivilisten, unstrittige Fakten eigentlich, und doch tut sich Moskau mit den Ereignissen von 1940 bis heute schwer. Noch nie hat ein russischer Präsident an der Gedenkfeier teilgenommen, nie zuvor ein Premier.

Es ist unwahrscheinlich, dass dieser Mittwoch nun zum Wendetag für das komplizierte Geflecht zwischen Russland und Polen wird. Aber beim Thema Katyn scheint sich Moskau wenigstens zu bewegen. "Dieses Treffen zwischen Putin und Tusk ist sehr wichtig. In den vergangenen 15 Jahren bestand Russlands Position zu Katyn ja immer nur aus Schweigen und Davonlaufen", sagt der Russe Alexander Gurjanow, Leiter der Polen-Kommission bei der Moskauer Organisation Memorial.

Der Geste Putins ist bereits eine andere vorausgegangen: Am vorigen Freitag zeigte das russische Fernsehen erstmals in seinem Kulturkanal den Film "Katyn" des polnischen Regisseurs Andrzej Wajda. Das Werk war vor zwei Jahren für den Oscar nominiert worden, aber die Kulturschaffenden in Moskau wagten es nicht, den aufrüttelnden Film dem Volk zu präsentieren. Er lief lediglich einmal im Moskauer Haus des Kinos und im Zentralen Haus der Literaten - mehr nicht. Jetzt aber versammelte sich eine kleine Runde von Wissenschaftlern und Politikern im Fernsehstudio und kam nach dem Film zu dem Schluss, dass Wajdas "Katyn" zwar eine scharfe Anklage gegen den Totalitarismus sei, aber keineswegs antirussisch.

Stalin-Porträts genehmigt

Für Russland ist der 70. Jahrestag von Katyn ein sensibles Datum. Ausgerechnet wenige Wochen vor dem 65. Jahrestag des Sieges über Deutschland tischt er noch einmal die Verbrechen des Stalin-Regimes auf, an die sich viele Russen nicht gern erinnern lassen wollen. Vor allem die Kommunisten propagieren am liebsten den Kriegsheld-Mythos des früheren sowjetischen Diktators. Und einen kleinen, eigenen Sieg feiern sie auch gerade. Die Stadt Moskau genehmigte, dass zur Siegesparade Anfang Mai auch einige Stalin-Porträts die Straßen der Hauptstadt säumen dürfen.

Ermutigt von so viel Rücksichtnahme dringt nun die Fraktion der KP, immerhin die zweitstärkste Kraft im russischen Parlament, sogar auf eine Untersuchungskommission zum Katyn-Massaker. Von neuen Dokumenten in Kopie sprechen sie, die angeblich belegen sollen, dass nicht Mitarbeiter des sowjetischen Geheimdienstes die polnischen Offiziere erschossen hätten, sondern deutsche Soldaten. Jahrzehntelang war diese Mär offizielle Position des Kremls gewesen. Als Leonid Breschnew Parteichef in Moskau war, wurde in der Nähe des weißrussischen Dorfes Chatyn - mit Katyn nicht zu verwechseln - sogar ein gewaltiges Denkmal für die Opfer der deutschen Besatzung errichtet. Es sollte von Katyn ablenken.

Doch irgendwann ließen sich die Fakten nicht mehr verbiegen. Michail Gorbatschow räumte 1990 die Schuld der Sowjetunion ein, zwei Jahre später übergab sein Nachfolger Boris Jelzin den polnischen Behörden erste wichtige Dokumente. Darunter war die Unterschrift Stalins, mit der dieser die Ermordung der polnischen Kriegsgefangenen gebilligt hatte. Der Rückschlag aber kam 2004. Die russische Militärstaatsanwaltschaft stellte damals die Untersuchung der "Strafsache Katyn" ein, der größte Teil der entsprechenden Akten wurde für geheim erklärt. Offiziell werden die Schuldigen bis heute nicht genannt, die Opfer nicht anerkannt. Das Massaker von Katyn gilt vor allem als Amtsmissbrauch einzelner führender Personen, nicht als Verbrechen des Stalinismus, genehmigt vom Diktator höchstselbst.

"Keine Alternative zur Wahrheit"

"Das Katyner Massaker ist eines der schwersten des Stalinismus, dies anzuerkennen, ist für die Gesellschaft schmerzhaft", sagt Menschenrechtler Gurjanow. "Da will man nicht gern drüber reden. Die Menschen sind es ja bisher so gewöhnt, dass die Vergangenheit für Sieg und Errungenschaften steht, auf die sie stolz sind. Und deshalb muss Katyn auch Teil einer Grundsatzdebatte über die Rolle Stalins werden." In den russischen Geschichtsbüchern wird der Stalin'sche Terror allenfalls in wenige Absätze gepresst.

In einem offenen Brief an Präsident Dmitrij Medwedjew fordert die Organisation Memorial nun, dass Russland die Ermittlungen zu Katyn wieder aufnimmt, eine vollständige Liste aller Opfer erstellt, die Namen der Schuldigen benennt und das Verbrechen juristisch bewertet. Putin reise zwar jetzt nach Katyn, sagt Gurjanow, "aber Medwedjew als Präsident hat die Befugnis, die Lage zu verändern. Doch ehrlich gesagt, ich setze in ihn keine besondere Hoffnung". Vielleicht ist es Moskaus Furcht, die Angehörigen der Opfer könnten Russland dann mit Entschädigungsklagen überziehen. Vielleicht auch will die Regierung ihrem stolzen Volk noch nicht zumuten, einen Teil der Vergangenheit in Frage zu stellen. Wenngleich der Leiter des außenpolitischen Duma-Ausschusses, Konstantin Kossatschow, sagte, "es gibt keine Alternative zur Wahrheit über diese Tragödie".

Entscheidend ist aber vor allem, welche Worte Putin finden wird an diesem Mittwoch. Und wie Polen sie aufnimmt. "Wenn es einen Durchbruch gibt, und wenn sich unser Verhältnis zu Polen mit der Trauerfeier verbessert, ist es umso schöner", sagt Alexander Gurjanow. "Aber tatsächlich ist Katyn vor allem unser eigenes, russisches Problem."

© SZ vom 07.04.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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