25 Jahre Ende der Sowjetunion:Russland, Stern ohne Strahlkraft

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An einem grauen Wintertag im Zentrum Moskaus - im Hintergrund "Moskwa City", das Moskauer Internationale Geschäftszentrum. (Foto: AFP)

Dem Kreml fehlt ein Modell, das für seine Bürger und Nachbarstaaten anziehend ist. Der von Putin ausgerufene Patriotismus allein reicht nicht, um über Grenzen hinweg zu verbinden.

Kommentar von Julian Hans, Moskau

Es war natürlich nur ein Scherz. Einer von der Sorte, wie Wladimir Putin sie gern macht. Bei der Preisverleihung eines Geografie-Wettbewerbs legte er dem neun Jahre alten Sieger väterlich den Arm um die Schultern und fragte unschuldig: "Wo enden Russlands Grenzen?" - "In der Beringstraße zu Amerika", antwortete der Schüler beflissen.

Aber der Präsident ließ das nicht gelten: "Russlands Grenzen enden nirgendwo", sagte er augenzwinkernd. Der Saal lachte, Verteidigungsminister Sergej Schojgu klatschte, und wieder einmal dürfen alle rätseln, wo bei diesem Scherz das Körnchen Wahrheit liegt.

Putin versteht es, die imperialen Sehnsüchte seiner Landsleute zu bedienen. Mit der Annexion der Krim hat das Land zum ersten Mal seit dem Zerfall der Sowjetunion seine Grenzen wieder ausgedehnt. Bei den Bürgern löste dies eine Welle des Patriotismus aus, bei den Nachbarn Angst.

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Unter den Zaren hatte sich Russland bis an den Pazifik ausgebreitet. Die Kommunisten strebten von Russland aus gar die Weltrevolution an. Mit den Kriegen in der Ukraine und in Syrien stellt Putin nun die Frage nach dem Platz Moskaus in Europa und in der Welt neu.

Kann "die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts", wie Putin das Ende der Sowjetunion einmal nannte, korrigiert werden? Die Suche nach einer Antwort dauert schon ein Vierteljahrhundert.

Russland braucht ein Modell der Integration

Entgegen dem weit verbreiteten Glauben trafen sich die Chefs der russischen, ukrainischen und weißrussischen Sowjetrepubliken vor genau 25 Jahren nicht etwa, um die Sowjetunion aufzulösen. Der Vertrag war vielmehr der Versuch, eine neue Form der Integration zu finden, nachdem sich seit dem Mai 1989 eine Republik nach der anderen in die Unabhängigkeit verabschiedet hatte.

Aber die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) war eine Totgeburt, und Putins neuer Versuch, eine Eurasische Wirtschaftsunion zu etablieren, ist bisher kaum lebendiger. Dabei würde ein positives Modell dringend gebraucht. Denn es stimmt ja, dass mit dem Zerfall der Sowjetunion Menschen, die bisher in einem gemeinsamen politischen, wirtschaftlichen, rechtlichen und kulturellen Raum gelebt hatten, durch neue Grenzen getrennt wurden.

Die westeuropäischen Staaten gingen nach dem Zweiten Weltkrieg den Weg der Integration und des Interessenausgleichs. Ein Krieg um das Elsass wäre heute undenkbar; bei offenen Grenzen, Freizügigkeit und freiem Warenverkehr innerhalb der EU ist es letztlich zweitrangig, zu welchem Staat das Gebiet gehört. Was, wenn sich die Krim-Frage eines Tages so auflösen ließe?

Doch dazu bräuchte es eine Annäherung unter Gleichen statt imperialer Gesten. Putins immer wieder geäußerte Forderungen, auf Augenhöhe zu verhandeln, sind stets nur an Washington gerichtet. Für eine erfolgreiche Integration des postsowjetischen Raumes müsste das Gleiche aber auch für die Beziehungen zu Kiew, Minsk oder Tiflis gelten.

Patriotismus als einigende Idee ist nicht genug

Es stimmt, auch die Europäische Union ist in der Krise. Aber aus gegenteiligen Gründen. Die Sowjetunion zerfiel, weil ihr jede Anziehungskraft fehlte. Viele Probleme der EU sind hingegen Auswirkungen ihres Erfolges. Europa ist Ziel zahlreicher Menschen, die vor Krieg und Armut flüchten, Nachbarstaaten wollen an Wohlstand, Sicherheit und Freiheit teilhaben.

In Russland aber setzt sich die Krise fort, die vor 25 Jahren zum Zerfall der UdSSR geführt hat. Eine Weile hat der Ölboom über die Schwäche hinweggetäuscht, gerade gelingt dies dem Kreml durch Militäreinsätze. Die Attraktivität der EU und die fehlende Attraktivität Moskaus hat auch die Ukraine-Krise ausgelöst - nicht ein hinterhältiger Versuch, das Land dem russischen Einfluss zu entreißen.

Anfang des Jahres erklärte Putin den Patriotismus zur einzigen einigenden Idee für Russland. Aber so gut sich Patriotismus auch zur Mobilisierung des Volkes eignet; anders als die Idee des Kommunismus oder die universellen Werte von Rechtsstaat, Freiheit und Gleichheit entfaltet er keine Kraft, die Menschen über Grenzen hinweg verbinden könnte.

Das größte Land der Erde hat von der Sowjetunion zwar die Atomraketen und den ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat geerbt. Wirtschaftlich aber spielt es in einer Liga mit Spanien, und kulturell hat es kaum Strahlkraft. Viele Staaten in Zentralasien und im Kaukasus sind nach wie vor von Russland abhängig. Aber Drohungen und Erpressung können kein Bündnis auf Dauer zusammenhalten. Das kostet auch das Zentrum selber zu viel Kraft. Solange Russland kein Modell entwickelt, wie es für die eigenen Bürger und für seine Nachbarn anziehend sein kann, wird es die Rolle einer Supermacht nicht dauerhaft spielen können.

© SZ vom 08.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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