Ehemalige Republiken der UdSSR:Abschied vom Sowjeterbe

Lesezeit: 3 min

In Russland ist der Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland der höchste Feiertag. Doch in vielen früheren Republiken der UdSSR betont man inzwischen lieber die nationale Souveränität.

Von Frank Nienhuysen, München

Kein Wölkchen trübte das Paradenglück, der Himmel über Moskau war blau wie fast immer am 9. Mai. Verteidigungsminister Sergej Schoigu gratulierte in einer dunklen Limousine stehend zum 71. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland, 10 000 Soldaten brüllten "Urrraaaa, urrraaaa, urrraaaa", was von der Kremlmauer und dem Kaufhaus Gum schmetternd zurückhallte, und Wladimir Putin pries das "sowjetische Volk, das anderen Völkern Freiheit brachte". Dann begann die Waffenschau: Buk-Raketen wurden über den Roten Platz gezogen, der neue Panzer Armata rollte, das Raketensystem S-400 Triumph wurde ausgestellt, und eine Flugstaffel malte die russische Trikolore in den Himmel.

Die Siegesparade auf dem Roten Platz ist ein jährliches Spektakel, das die russische Nation einen soll. Enkel zeigen den Stolz auf ihre Großväter, die Großväter, die noch leben, zeigen ihre Orden. Und der Kreml zeigt, dass Russland eine militärische Macht ist. Sogar auf dem Luftwaffenstützpunkt in Syrien gab es eine Militärparade. Der 9. Mai ist der wichtigste Feiertag im Land, und so viel Licht fällt auf Moskau, dass kaum auffällt, was sich in den anderen Ländern des einstigen Sowjetimperiums verändert. In den baltischen Staaten Estland, Lettland, Litauen, inzwischen Nato- und EU-Mitglieder, ist der 9. Mai längst ein Werktag. Doch auch in anderen der 15 ehemaligen Sowjetrepubliken wandelt sich die Bedeutung. Dort ist die nationale Souveränität offenbar wichtiger als die gemeinsame Klammer eines Sieges, der sieben Jahrzehnte zurückliegt.

71 Jahre nach Kriegsende ist der 9. Mai nicht mehr der große Tag wie einst

In fast allen diesen Ländern ist der Siegestag noch ein Feiertag, aber er ist nicht mehr unbedingt der wichtigste. Und außer vielleicht in Aserbaidschan ist er kaum noch Anlass für eine Rüstungsgüterschau. Kasachstan, dessen Präsident Nursultan Nasarbajew am Montag in Moskau war, hat nach dem Jubiläumsjahr 2015 diesmal auf eine eigene Militärparade verzichtet, was mit Aufwand und Kosten allerdings weniger zu tun hat. Astana hat sich vielmehr für eine patriotische Militärparade im September entschieden - da feiert das Land seinen 25. Unabhängigkeitstag.

Nach Ansicht des Direktors des Eurasischen Kommunikationszentrums, Alexej Pilko, will sich Kasachstan nach und nach vom historischen Sowjeterbe lösen und seine eigene Ideologie herausstreichen. Das gilt offenbar auch für andere. In Kirgisistan gab es am Montag ebenfalls keine Militärparade mehr. Sie ist nun in Bischkek für Ende August geplant, wenn das zentralasiatische Land 25 Jahre unabhängig ist - nach Jahrzehnten in der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR).

Radikale Zäsuren wie im Baltikum, das im Ende des Zweiten Weltkriegs zugleich den Beginn einer aufgezwungenen Epoche unter Moskaus Herrschaft sieht, gibt es in den anderen Ländern des einstigen Imperiums zwar nicht. Auch in Weißrussland, Georgien oder der Ukraine wird noch immer an den 9. Mai 1945 erinnert, und beliebte, traditionsreiche Feiertage abzuschaffen, überlegt sich jede Regierung mindestens dreimal gründlich. Doch sichtbar ist: Der große länderüberwölbende Tag wie einst ist der Tag 71 Jahre nach Kriegsende nicht mehr. Die Ukraine etwa, die in der Vergangenheit Militärparaden ohne große Zweifel abhielt, hat dem 9. Mai die Konkurrenzlosigkeit genommen, in dem sie im vorigen Jahr erstmals auch den 8. Mai zum Gedenktag gemacht hat. Jenen Tag also, der im Westen als Jahrestag der Kapitulation begangen wird, nicht aber in Russland. Präsident Petro Poroschenko unterstrich damit den Westkurs der Ukraine, während Politiker in Moskau von einer "antirussischen Kampagne" sprachen.

Ähnliche Vorwürfe haben dieser Tage im letzten Moment die Pläne in der Republik Moldau umhergewirbelt. Dort hatte die prorussische Opposition als besondere Boshaftigkeit empfunden, dass am 9. Mai im Zentrum der Hauptstadt Chișinău amerikanische Militärtechnik ausgestellt werden sollte. Die kam gleichsam mit US-Soldaten ins Land, die derzeit an "Dragon Pioneer", einer Übung amerikanischer und moldauischer Einheiten teilnehmen. Moldau, in dem sich Russlandfreunde und Europhile seit Jahren einen Machtkampf um den außenpolitischen Kurs liefern, zog die Ausstellung dann doch kurzerhand auf den 8. Mai vor. Die Opposition hatte mit Protesten und Attacken gegen das US-Militär gedroht, und solche Bilder sollten am Siegestag nicht die Runde machen.

"Für viele Länder der früheren Sowjetunion spielt der Siegestag nicht mehr die Rolle wie bei uns in Russland", sagte Alexej Pilko der Internetzeitung gazeta.ru, "er verschwindet allmählich von der Tagesordnung; das ist keine sehr gute Tendenz, aber sie wird sich fortsetzen."

© SZ vom 10.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: