Italien:"Das System Berlusconi implodiert"

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Silvio Berlusconi hat ein modernes Italien versprochen, doch seine Bilanz ist katastrophal. Die klugen Köpfe des Landes denken bereits über die Zeit nach dem Medienmogul nach - und haben wenig Hoffnung.

Henning Klüver

Wankt Berlusconi? Was passiert in einem Italien "danach"? Seit nun über sechzehn Jahren bestimmt der Mailänder Medienunternehmer die Politik des Landes. Auch in den Jahren, in denen er nicht als Regierungschef die Zügel in der Hand hielt, konnten er und seine Vertrauten das politische Klima prägen. Ganz abgesehen davon, dass sie in den wirtschaftsstarken Regionen wie in der Lombardei oder Venetien seit 1995 ununterbrochen regieren.

Eine unsichere Zukunft - die Kritik der Gegner Berlusconis ist nun auch bei den Rechtsliberalen angekommen. (Foto: REUTERS)

Ein "modernes Italien" wollten Silvio Berlusconi und die Seinen schaffen, "eine liberale Revolution" einleiten. Mit solchen Slogans konnten sie wichtige Teile des Bürgertums des Landes ansprechen. Darunter waren auch konservative und liberale Intellektuelle, die nach der Finanz- und Korruptionskrise und der Neubildung des Parteiensystems Abschied von der sogenannten ersten Republik und einer "alten Politik" nehmen wollten. In den vage sozialdemokratischen Zielvorstellungen einer sich immer weiter zersplitternden linken Opposition oder den christlich-sozialen Ideen eines Minderheitsflügels der früheren Christdemokraten wollte man sich nicht wiedererkennen. Man fürchtete neue Bürokratisierungen und eine "Vergewerkschaftlichung" der Republik. Mit Skepsis beobachtete man jedoch den wachsenden Einfluss kleinbürgerlicher Globalisierungsgegner, wie etwa der Lega Nord, auf die notwendige Modernisierungs-Politik.

Zu den führenden Köpfen, die vor allem Berlusconi und seine Parteigründungen (zuerst Forza Italia, dann die PDL) argumentativ unterstützen, zählte der Historiker Ernesto Galli della Loggia, zugleich einer der Kommentatoren des Corriere della Sera. Besonders in seinen Beiträgen für den Corriere verteidigte der Historiker Silvio Berlusconi und beklagte mit Vorliebe angeblich kulturpolitische Defizite der Linken und ihrer Intellektuellen. Jetzt aber reibt er sich die Augen: "Wo ist die liberale Revolution geblieben, die das Land so dringend braucht?"

Keine Frage, so Galli della Loggia, sollte es in ein paar Monaten Neuwahlen geben, dann würden Berlusconi und die PDL sie wohl wieder gewinnen. Dennoch sei die Bilanz der Ära Berlusconi und besonders die der vergangenen zwei Jahre, in denen die Regierung in beiden Häusern des Parlaments über Mehrheiten verfüge wie keine andere in der Nachkriegszeit, katastrophal. Und die Liste der nicht eingehaltenen Versprechungen lang. Das sei das Resultat der "Unfähigkeit des Premiers zur Führung". Berlusconi habe kein politisches Gesamtkonzept, er habe sich im Gegenteil immer als "Nicht-Politiker" feiern lassen und immer nur Symptome kuriert. Italien stehe vor einer unsicheren Zukunft und taumle führungslos, "dem Ablauf der Ereignisse überlassen", dahin.

Die Kritik des Historikers, die er in mehreren Artikeln der vergangenen Wochen artikulierte, wurde von anderen liberalkonservativen Autoren, wie etwa Sergio Romano, noch verstärkt. Sie zeigt, dass eine Debatte, die bislang im Anti-Berlusconi-Lager geführt worden ist, nun auch bei den Rechtsliberalen angekommen ist. Diese Debatte ist besonders von neuen Sachbüchern zur zukünftigen politischen Entwicklung angeregt worden. Bereits die Titel einiger Bücher beschreiben den Tenor der Auseinandersetzungen: "Italien ohne Seele" von Massimo Fini, "Nach ihm die Sintflut" von Oliviero Beha oder "Schamlos" von Marco Belpoliti.

Der frühere Staatsanwalt Luigi De Magistris und heutige Abgeordnete der kleinen Oppositionspartei IDV ("Italien der Werte") hat sich innerhalb weniger Monate zu einem Star der radikaldemokratischen Opposition entwickelt. Er analysiert in seinem Buch "Assalto al PM ("Angriff auf den Staatsanwalt"), wie in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten die Verfassung langsam ausgehöhlt worden sei, das Rechtssystem vor einer autoritären Wende stehe und die Demokratie porös werde. Sein Fazit: Vielleicht können wir uns bald von Berlusconi befreien - aber nicht von seinem System.

Ein System, das Mitarbeiter in Höflinge und das Wahlvolk in Dienerschaft verwandelt habe, wie das der in Princeton (USA) lebende Politikwissenschaftler Maurizio Viroli unter dem Titel "Die Freiheit der Diener" bei Laterza (Rom /Bari) beschreibt. Und der Publizist Oliviero Beha greift die These von Pasolini auf, dass die Gesellschaft ihre Erinnerung und ihre Kultur verliere und nur noch in der Gegenwart lebe. Berlusconi habe diesen Prozess beschleunigt, indem er mit seiner Mediendemokratie die Worte jeden Inhalts beraubt habe und nur noch die Hülle präsentiere. Auch die Politik habe - wie von Max Weber vorausgesagt - einem charismatischen Machtsystem Platz gemacht und die Parteien seien durch "Komitees der Geschäftemacher" ersetzt worden. Wenn Berlusconi demnächst die Bühne verlassen werde, bleibe von Italien nur noch "ein Loch, die Leere".

Giuliana Parotto, die an der Universität Triest politische Philosophie unterrichtet, entdeckt in ihrem auf Deutsch geschriebenen Essay "Silvio Berlusconi - Der doppelte Körper des Politikers" (Fink Verlag, München), wie sich der italienische Ministerpräsident religiöser Symbolik bedient. So mache er sich selbst zum Symbol der politischen Erneuerung, "zur persönlichen Metabasis, zum Wahlprogramm und zur eschatologischen Vision". Doch was wird die "neue Welt" ohne ihn? Und welche Kräfte könnten sie gestalten?

Fast alle Autoren, ob sie nun rechts oder links angesiedelt sind, stimmen darin überein, dass es Berlusconi gelungen sei, die Opposition gleichsam auszulöschen. Der Partito Democratico (PD), der versucht hat, kommunistische, sozialdemokratische und christlich-liberale Traditionen miteinander zu verbinden, ist heute eine Parteilarve.

Ohne Identität scheint sie unfähig, Zukunftsentwürfe zu entwickeln, geschweige denn, sie durchzusetzen. In der jüngsten Ausgabe (5/2010) der Kulturzeitschrift MicroMega versuchen der Philosoph Paolo Flores d'Arcais, der Ex-Kommunist Nichi Vendola (Regionalpräsident von Apulien) und Luigi De Magistris von der IDV Strategien für die Zeit "nach Berlusconi und nach dem PD" zu entwickeln, weil das System Berlusconi dabei sei, gleichsam zu implodieren.

Aber sie können auch nur die Zerrissenheit des Landes konstatieren, wobei der Süden immer mehr griechische Verhältnisse widerspiegele und der "Norden Richtung Bayern wandert" (Vendola). De Magistris denkt sich, ausgehend von dem berühmten Gemälde Il Quarto Stato ("Der vierte Stand") von Giuseppe Pellizza da Volpedo, dass "unser vierter Stand sich aus Arbeitern, Angestellten, den Jugendlichen der Anti-Berlusconi-Bewegung und dem Prekariat" zusammen setzt. Und Flores d'Arcais theoretisiert eine alternative Demokratieform, in der die Politiker in der Minderheit und die Vertreter der Zivilgesellschaft in der Mehrheit sind. Aber im Grunde bleiben die Gesprächspartner ratlos. Oder wie es Nichi Vendola angesichts der "Verkommenheit des Systems Berlusconi" formuliert: er habe "keine Antwort auf diesen Albtraum".

© SZ vom 02.08.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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