Identitäten in der Schweiz und Österreich:Wir sind alle nicht von hier

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Die Schweizer mögen keine Minarette, die Österreicher hatten Jörg Haider. Mit Ausländern haben sie es nicht so. Was sie haben: Angst vor dem Verlust ihrer kleinen Identität. Die suchen sie gern im Skifahren. Kommt die Lösung also aus dem Sport?

Ein Gastbeitrag von Thomas Glavinic

Von der Schweiz hört man nicht viel. Passiert dort einfach sehr wenig, oder interessiert uns die Schweiz nur nicht besonders? Hören wir nicht zu, oder ist die Schweiz schlicht sehr diskret? Mit der Schweiz assoziieren wir Geld. Zu allererst Geld, dann Zeitungen, Banken, Geld, die Schweizer Garde und Wilhelm Tell, Geld, Uhren, Schokolade, Geld, Heidi, Skilaufen, Käse. Fußball spielen können sie mittlerweile ganz gut, besser als wir Österreicher, aber das ist nichts Besonderes.

Politisch auffällig sind sie, nicht anders als die Österreicher. Sie haben einen Blocher, wir hatten einen Haider und haben nun einen Strache. Und sie pflegen eine interessante Form der direkten Demokratie, die zuweilen zu Ergebnissen führt, über die sich manch einer wundert oder ärgert. Mit Ausländern haben sie es nicht so, scheint es. Sie mögen keine Minarette, und sie wollen nun, darüber haben sie abgestimmt, tendenziell lieber unter sich bleiben.

Das wollen auch viele Österreicher. Und das ist sowohl bei den Schweizern als auch bei den Österreichern ein eigentlich seltsamer Sachverhalt. Die Schweizer sind italienische Schweizer, deutsche Schweizer und französische Schweizer, es gibt Rätoromanisch als Amtssprache, aber wenn man den Fernseher aufdreht und einen Schweizer Sender findet, versteht man kein Wort, denn da redet dieses Völkchen gerissenerweise Schwyzerdütsch, um ja von niemand anderem verstanden zu werden.

So weit treiben es nicht einmal wir Österreicher; im Fernsehen versuchen wir uns an der Hochsprache. Ausländern begegnen wir ebenfalls mit Skepsis, obwohl wir nicht nur Gruber und Huber, sondern Pos-pischil und Novotny heißen, Demirci und Özcan, Guido und Moretti, Vukovits und Gajic. Der Aufstieg von Jörg Haiders FPÖ hat nur bedingt mit der Immigrationswelle von Menschen aus dem früheren Jugoslawien zu tun, die dazu beitrugen, dass der Ausländeranteil Wiens zu einem der höchsten aller europäischen Hauptstädte wurde.

Das war bei uns schon immer so. Wir sind nicht von hier, wir sind allesamt von woanders. Österreicher sind Menschen, die irgendwann gekommen und geblieben sind, um denen, die nach ihnen kamen, mit Misstrauen entgegenzublicken. Wir kommen, wir bleiben, wir vergessen, woher wir kamen; der Österreicher lebt in der Gegenwart. Nicht nur, aber dazu kommen wir später.

Jedenfalls liegt der österreichischen Angst vor dem Verlust der Identität ein Denkfehler zugrunde. Anders als die Schweizer sind die Österreicher traditionell ein Volk in Bewegung. Schweizer sind immer die gleichen Schweizer, Österreicher sind immer andere Österreicher.

Angst vor dem Draußen haben sie beide, die Schweizer und die Österreicher. Doch es gibt einen wesentlichen Unterschied. Die Schweiz ist seit Jahrhunderten, was sie ist, sie hat kein großes Trauma zu verarbeiten, sie ist seit Jahrhunderten unantastbar geblieben, man möchte sagen, die Schweiz ist der Saul Goodman Europas, jener talentierte Rechtsanwalt aus "Breaking Bad".

Das ist bei den Österreichern anders. Wir sind Gescheiterte, wir sind Gefallene, die das Erbe eines großen Reiches verwalten. Österreich war auf Augenhöhe mit dem Bruder im Norden, der damals noch nicht übermächtig war, Österreich war ein Kaiserreich und eine mehr oder minder stabile Mittelmacht, Wien eine Metropole von Weltbedeutung mit erheblicher Anziehungskraft auf Künstler und Intellektuelle.

Das hat sich gewaltig geändert, und manchem Österreicher fällt es schwer, sich daran zu gewöhnen. Es soll Hunderassen geben, die nach Generationen der Überzüchtung nicht einmal mehr halb so groß sind wie einst, was sie selbst aber nicht wissen, weswegen immer wieder mal ein Hündchen mit mutigem Gekläff auf einen überlegenen Artgenossen losgeht. Das unglückliche Hündchen weiß nicht, dass es nicht mehr ist, was es einst war. Der aufmerksame Beobachter erkennt in dieser geschrumpften Kreatur den Österreicher.

Die Schweiz und Österreich haben nicht nur die Angst vor dem Fremden gemeinsam, die Angst vor dem Verlust ihrer kleinen Identität, die sie gern im Skifahren suchen und finden. Sie haben auch einen gemeinsamen großen Nachbarn, die Deutschen, die angesichts der Größe ihres Landes solche Selbstzweifel nicht so leicht plagen können. Die Schweiz hat zusätzlich Frankreich und Italien, deswegen ist Deutschland für sie nur ein Nachbar, mit dem sie nicht ganz so zwiespältige Gefühle verbinden wie uns Österreicher.

Für uns ist Deutschland ein Bruder. Ein großer Bruder. Ein verdammt großer Bruder. Immerhin scheint sich der österreichische Minderwertigkeitskomplex allmählich zurückzubilden, und das liegt am Sport. Die Zeit mag auch eine gewisse Rolle spielen, die Österreicher könnten sich mittlerweile ein wenig an ihre neue Existenz als Kleinstaat gewöhnt haben. Aber die Bedeutung des Sports darf nicht unterschätzt werden.

Noch vor zehn Jahren waren österreichische Fernsehübertragungen von Skirennen Ereignisse von existenziell verstörender Peinlichkeit. Nationalbesoffene Kommentatoren erinnerten bei den Zwischenzeiten ausländischer Fahrer, diesen könnte ja noch die Bindung aufgehen, und wenn die Fremden doch siegten, lag es am schlechten Material der Österreicher. Lieferte einer unserer Helden eine positive Dopingkontrolle ab, war er das Opfer dunkler Mächte und bekam einen Kommentatorenjob beim ORF. Das bessert sich langsam.

Die Lösung kommt also aus dem Sport

Zwar steht die österreichische Identität nach wie vor auf Skiern. Aber man beginnt die Leistungen ausländischer, ja sogar der deutschen und der erzfeindlichen schweizerischen Athleten zu würdigen. Es ist jedoch noch stärker der Fußball, der die Österreicher zumindest mit den Deutschen hat Frieden schließen lassen. Früher waren die Deutschen vor allem Hans-Peter Briegel: viel Kraft, wenig Eleganz. Diese Zeiten sind vorbei, und mit der Sympathie, die man dem deutschen Fußball entgegenbringt, hat sich einiges an der Wahrnehmung Deutschlands verändert.

Die Lösung kommt also aus dem Sport. Die neue deutsch-österreichische Normalität zeigt sich auch darin, dass sich gar viele deutsche Sportler in Österreich niedergelassen haben. Was damit zu tun hat, dass Sportler hierzulande nur 33 Prozent ihrer Preisgelder und Werbeeinnahmen versteuern müssen. Das ist an sich schon bemerkenswert, doch noch faszinierender ist die Begründung des österreichischen Staates: weil die Sportler Werbung für Österreich machen. Der Spitzensteuersatz von Künstlern liegt übrigens bei 50 Prozent. Aber das hat wohl weniger mit den Komplexen eines kleinen Landes zu tun, sondern vielmehr mit einer austriakischen Eigentümlichkeit: Österreicher sind ein wenig wie Menschen, die am Tag auf ihren Partner böse sind, weil der sie im Traum geärgert hat.

© SZ vom 19.04.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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