Historiker Foschepoth über US-Überwachung:"Die NSA darf in Deutschland alles machen"

Josef Foschepoth

Fand geheime Vereinbarungen zwischen der Bundesregierung und den Westalliierten, die noch heute gelten: der Freiburger Historiker Josef Foschepoth

(Foto: Christoph Breithaupt)

Geschichtsprofessor Josef Foschepoth hat dokumentiert, wie umfangreich die USA seit den Anfängen der Bundesrepublik die Kommunikation kontrollieren. Im Interview erklärt er, wieso die US-Geheimdienste auch nach der Wiedervereinigung freie Hand haben.

Von Oliver Das Gupta

Josef Foschepoth, Jahrgang 1947, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg. Der Historiker stellte in seinem 2012 erschienenen Buch "Überwachtes Deutschland" dar, wie die Westalliierten USA, Großbritannien und Frankreich zur Zeit des Kalten Krieges die Postsendungen und Telefonate in Deutschland kontrollierten. Demnach schlossen die Westalliierten mit den Bonner Regierungen in den ersten Nachkriegsjahrzehnten zum Teil geheime Vereinbarungen, die den Diensten freie Hand einräumten. Mitunter sind diese Abkommen immer noch gültig, wie Foschepoth nachweisen konnte.

Im Zuge der durch Edward Snowden enthüllten Überwachungspraktiken der Vereinigten Staaten und Großbritanniens erfahren Foschepoths Recherchen neue Aktualität. Aus diesem Grund haben wir uns entschlossen, neben einem Artikel auch ein Wortlautinterview mit dem Historiker zu führen.

SZ.de: Herr Foschepoth, in Ihrem Buch "Überwachtes Deutschland" weisen Sie nach, wie umfangreich US-Geheimdienste die Kommunikation in der Bundesrepublik überwacht haben. Muss die deutsche Nachkriegsgeschichte umgeschrieben werden?

Josef Foschepoth: Das Narrativ vom schnellen Aufstieg der Bundesrepublik nach dem Krieg unter gleichberechtigten Freunden stimmt auf jeden Fall so nicht. Es gibt dicke Fragezeichen. Dadurch wird ja nicht alles schlecht, aber einige Dinge waren eben anders, als wir bislang dachten. Fakt ist: Der ganze Überwachungskomplex ist ein wesentliches Element der Rechtstaatsentwicklung Westdeutschlands gewesen. Die Bundesrepublik wäre niemals das geworden, was sie ist: in ihrer ganzen Beschränktheit, aber auch in ihrer Eingebundenheit in den Westen. Aber natürlich auch in ihrer Aggressivität gegenüber dem Ostblock.

Sie haben teilweise geheime Vereinbarungen gefunden und mit öffentlich zugänglichen Dokumenten kombiniert.

Es ist frappierend, was alles in irgendwelchen Vereinbarungen und Statuten versteckt ist. Aber irgendwann wurde klar: Wir haben nahezu symbiotische Zustände zwischen den Geheimdiensten. Und alles mit dem Segen und Wissen der Bundesregierungen.

Historiker Foschepoth über US-Überwachung: Protest gegen die NSA: Installation in der Nacht vom 8. auf den 9. Juli an der US-Botschaft in Berlin von Künstler Oliver Bienkowski

Protest gegen die NSA: Installation in der Nacht vom 8. auf den 9. Juli an der US-Botschaft in Berlin von Künstler Oliver Bienkowski

(Foto: AFP)

Wie kann eine geheime Verwaltungsvereinbarung die deutsche Verfassung ausstechen?

Die Verwaltungsvereinbarung erläutert ja nur, was in den Hieroglyphen anderer völkerrechtlicher Verträge enthalten ist. Sie ist auch dafür da, um die Intensität der Zusammenarbeit zu präzisieren und sie vor Geheimnisverrat und Strafverfolgung zu schützen - Dinge, die durch die Causa Snowden momentan aktuell sind.

Neben der Kooperation mit deutschen Diensten schnüffelten die USA aber auch auf eigene Faust. Inwiefern ist ihnen das in Deutschland erlaubt?

Ein Passus im Zusatzabkommen zum Nato-Truppenstatut, der 1963 in Kraft trat und den Truppenvertrag von 1955 ablöste, öffnet in diesem Fall die Türe. Darin verpflichten sich beide Seiten zu engster Zusammenarbeit. Diese betraf insbesondere "die Sammlung, den Austausch und den Schutz aller Nachrichten". Um die "enge gegenseitige Verbindung" zu gewährleisten, verpflichteten sich beide Seiten, weitere Verwaltungsabkommen und geheime Vereinbarungen abzuschließen. In Artikel 38 wurde zudem ein striktes Geheimhaltungsgebot vertraglich festgelegt.

Gelten diese Bestimmungen auch in anderen Nato-Staaten?

Nein. Das Zusatzabkommen haben die drei Westmächte nur mit der Bundesrepublik geschlossen. In diesem Sonderrecht spiegeln sich nach wie vor Sieger- und Besatzungsrecht wider. Der Clou sind allerdings die Grundgesetzänderung, das G-10-Gesetz und die dazu abgeschlossene geheime Verwaltungsvereinbarung von 1968. Scheinbar großherzig gaben die Alliierten die Überwachung an die Deutschen ab, die nun Dienstleister in Sachen Überwachung für die drei Westmächte wurden. Eine völkerrechtlich verbindliche geheime Zusatznote vom 27. Mai 1968 berechtigte die Alliierten außerdem, im Falle einer unmittelbaren Bedrohung ihrer Streitkräfte auch weiterhin eigene Überwachungsmaßnahmen durchzuführen. Es war der Bluff des Jahres 1968. Truppenstatut, Verwaltungsvereinbarung und geheime Note überdauerten auch die Wiedervereinigung, sie gelten bis zum heutigen Tage weiter.

Was heißt das für uns heute?

Vieles deutet darauf hin, dass es sogar noch viel schlimmer geworden ist. Die Vernetzung zwischen den Diensten ist enger, die technischen und finanziellen Möglichkeiten wurden immer gewaltiger. Gemessen an dem Umfang der Überwachung, haben wir heute nach Ansicht der Geheimdienste offenbar eine x-mal größere Bedrohungslage als zu Zeiten des Kalten Krieges.

Welche Grenzen hat ein westalliierter Geheimdienst wie die NSA in Deutschland?

Im Prinzip keine. Die NSA darf in Deutschland alles machen. Nicht nur aufgrund der Rechtslage, sondern vor allem aufgrund der intensiven Zusammenarbeit der Dienste, die schließlich immer gewollt war und in welchen Ausmaßen auch immer politisch hingenommen wurde.

Der NSA-Whistleblower Edward Snowden hat unter anderem in Deutschland um Asyl gebeten. Manche Politiker wollen ihn gerne als Zeugen vorladen. Wäre Snowden gut beraten, in die Bundesrepublik zu kommen?

Auf keinen Fall. Aufgrund des Zusatzvertrags zum Truppenstatut und einer weiteren geheimen Vereinbarung von 1955 hat die Bundesregierung den alliierten Mächten sogar den Eingriff in das System der Strafverfolgung gestattet. Wenn eine relevante Information im Rahmen eines Strafverfahrens an die Öffentlichkeit gelangen könnte, heißt es in Artikel 38, "so holt das Gericht oder die Behörde vorher die schriftliche Einwilligung der zuständigen Behörde dazu ein, dass das Amtsgeheimnis oder die Information preisgegeben werden darf". Gemäß der geheimen Vereinbarung wurde sogar der Strafverfolgungszwang der westdeutschen Polizei bei Personen aufgehoben, die für den amerikanischen Geheimdienst von Interesse waren. Stattdessen musste die Polizei den Verfassungsschutz und dieser umgehend den amerikanischen Geheimdienst informieren. Dann hatten die Amerikaner mindestens 21 Tage lang Zeit, die betreffende Person zu verhören und gegebenenfalls außer Landes zu schaffen. Was nicht selten geschah. Im Übrigen hat natürlich die Bundesregierung keinerlei Interesse, sich auf einen neuen Kalten Krieg, dieses Mal mit den Vereinigten Staaten, einzulassen.

"Es ist schon viel Heuchelei im Spiel"

Gilt das im Grundgesetz-Artikel 10 verankerte Postgeheimnis überhaupt, wenn die Amerikaner im Prinzip alles überwachen dürfen?

Die Beschränkungen sind inzwischen so zahlreich, dass es ein Grundrecht auf Unverletzlichkeit des Post- und Fernmeldegeheimnisses nicht mehr gibt. 1968 änderte die Große Koalition Artikel 10 folgenschwer ab. Ein Zusatz sieht vor, dass die überwachten Personen nicht das Recht haben, informiert zu werden. Zudem wird der Rechtsweg ausgeschlossen. Mit der Ausschaltung der Gewaltenteilung wurde ein verfassungswidriges Prinzip in die Verfassung geschrieben. Das ist eine der schlimmsten Beschädigungen des Grundgesetzes. Die heutige Fassung stellt den Grundgedanken unseres Staatsverständnisses auf den Kopf. Der Staat hat die Bürger und seine Grundrechte zu schützen und nicht diejenigen, die es verletzen. Er hat die Grundrechte zu gewährleisten und nicht zu gewähren.

Wie kam es dazu, dass die Große Koalition unter Kanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) und Vizekanzler Willy Brandt (SPD) Artikel 10 entsprechend geändert hat?

Das hängt mit dem großen Wunsch nach Ablösung der alliierten Vorbehaltsrechte zusammen. Als Willy Brandt im Deutschen Bundestag erklärte, dass die Vorbehaltsrechte endgültig abgelöst seien, war das nicht falsch, aber nur die halbe Wahrheit. Über den Zusatzvertrag zum Nato-Truppenstatut waren die gleichen Rechte seit 1963 völkerrechtlich verbindlich weiterhin in Kraft und sind es bis heute. Mit den Alliierten wurden das G-10-Gesetz und alle weiteren Vereinbarungen mit den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs Schritt für Schritt und Wort für Wort abgestimmt. Das war übrigens auch in den Siebziger- und Achtzigerjahren und sicher auch noch in den folgenden Jahrzehnten der Fall, wenn das G-10-Gesetz wieder einmal im Interesse der Geheimdienste novelliert werden musste.

Den Regierungssprecher lässt die Kanzlerin nun erklären, Abhören unter Freunden "gehe überhaupt nicht".

Frau Merkel weiß, was Volkes Meinung ist. Nicht nur die aktuelle Affäre, sondern auch die sechzigjährige Geschichte der Bundesrepublik zeigen, dass die Realität anders aussieht. Es ist schon viel Heuchelei im Spiel.

Können die deutschen Dienste oder die G-10-Kommission sich den Amerikanern verweigern?

Bislang ist das, soweit ich das überblicke, nicht geschehen. Die deutschen Stellen, insbesondere die G-10-Kommission, haben nach Auskunft eines langjährigen Mitglieds in der Vergangenheit jedenfalls alles durchgewinkt. Verstöße gegen Abmachungen wurden hingenommen. Die G-10-Kommission bekommt ohnehin nur gefilterte Informationen.

Die Bundesregierung hat inzwischen zugegeben, dass die Verwaltungsvereinbarung von 1968 noch in Kraft ist. Aber sie werde nicht mehr angewandt, heißt es in einer Antwort auf eine Anfrage des Bundestagsabgeordneten Hans-Christian Ströbele.

Vielleicht werden keine Anträge mehr gestellt. Ist inzwischen auch nicht mehr nötig. Stattdessen wird das G-10-Gesetz immer wieder angepasst, die letzte Novelle stammt von 2006. Da schreibt man dann eben das rein, was die deutschen Dienste angeblich brauchen. Selbst von jedem Skandal konnten sie bislang profitieren. Jedes Mal gibt es mehr Geld und mehr Personal, neue schwammige Vorschriften und neue Gremien. Die Apparate wachsen immer mehr und werden immer unübersichtlicher.

Warum ließen sich deutsche Kanzler von Adenauer über Brandt bis Kohl auf diese Deals ein?

Es gab eine tiefe Sehnsucht, souverän zu werden. Adenauer sprach davon, auch Brandt als Vizekanzler 1968. Kohl wollte wohl die Wiedervereinigung nicht gefährden. Auch die Regierungen Schröder/Fischer und die Regierung Merkel haben die bestehenden Regelungen nicht angefasst. Sie haben alle den großen Kotau gemacht vor den Amerikanern. Die sitzen ja alle in einem Boot, weil sie von den US-Informationen auch profitieren.

Haben alle bisherigen Bundeskanzler ihren Amtseid gebrochen, demzufolge sie Schaden vom deutschen Volk abzuwenden haben?

Wenn ich als Geschäftsführer einer privaten Firma Steuern hinterziehe, werde ich dafür angeklagt. Wenn ein Kanzler von verfassungswidrigen Vorgängen weiß und es hinnimmt, dann kann er allenfalls abgewählt, aber nicht persönlich dafür haftbar gemacht werden. Letztlich ist es nur Sache der Öffentlichkeit und der Zivilgesellschaft, den nötigen Druck zu erzeugen, der in der Lage ist, die beschädigte Verfassung, die teils schlimmen gesetzlichen Regelungen und Paragrafen, nicht zuletzt die noch geltenden deutsch-alliierten geheimen Vereinbarungen zu ändern beziehungsweise abzuschaffen. Dazu muss die Politik aber erst einmal bereit sein.

Was müsste passieren, damit sich Deutschland aus dem Griff der Dienste lösen kann?

Als Erstes müsste Artikel 10 des Grundgesetzes korrigiert werden, damit das Post- und Fernmeldegeheimnis endlich geschützt ist. Es kann nicht sein, dass Eingriffe in ein Grundrecht vor der Justiz verheimlicht werden dürfen. Danach müsste man das Zusatzabkommen zum Nato-Truppenstatut aufkündigen und die übrigen Vereinbarungen außer Kraft setzen. Die Nachrichtendienste müssten ein klareres Profil erhalten - mit deutlichen Grenzen und unter echter deutscher parlamentarischer Kontrolle. Aktionen müssen vorher genehmigt werden und nicht im Nachhinein legalisiert werden. Erst wenn das erreicht ist, werden rechtsstaatliche Verhältnisse herrschen.

Kann so dem Datenhunger der US-Dienste tatsächlich Einhalt geboten werden?

Keine Supermacht gibt einfach so auf, was sie sich erarbeitet hat. Deshalb läuft das bis heute so fort. Die US-Überwachung wächst inzwischen rasant. Vor den rechtsstaatlichen Grenzen der Bundesrepublik und anderer europäischer Länder macht sie nicht halt. Wir können uns schützen. Als Erstes aber müssen wir mit der Vergangenheit aufräumen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: