Helden der Krawalle in Großbritannien:England feiert seine Mutbürger

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Ein 15-Jähriger rettet seine Mutter vor einer Horde Gewalttätiger. Eine Frau springt mit dem Mut der Verzweiflung aus dem Fenster in die Tiefe - und eine Dame mit Gehhilfe hält eine Wutrede im Angesicht des Mobs. Geschichten aus Großbritannien, die dem Land wieder Zuversicht geben: Wie inmitten der Gewalt das Gute siegt.

Anja Treiber und Marie Zahout

Ein marodierender Mob zieht durch London, Birmingham, Manchester. Plündert Geschäfte. Prügelt auf Wehrlose ein. Die Polizei ist anfänglich mit der Situation völlig überfordert, ganze Städte versinken im Chaos - die Ereignisse der vergangenen Tage in Großbritannien verstören. Doch zwischen den Horrormeldungen finden sich auch Heldengeschichten. Sechs Episoden.

Um sich vor den Flammen zu retten, springt eine Frau aus ihrer Wohnung. Randalierer hatten das Haus angezündet. (Foto: Reuters)

[] Die Frau, die aus dem Fenster sprang

Ihre Schwester hat sie am Telefon gewarnt, sie solle nicht auf die Straße gehen. Das sei zu gefährlich, die Randalierer würden in ihrer Nachbarschaft einfallen.

Kurze Zeit später entsteht das Foto, das Monika Konczyk berühmt macht. Es zeigt die junge Polin als schwarze Silhouette vor einem gelben Flammenmeer. Die Randalierer waren in ihr Haus gekommen, die Wohnung wäre fast zur tödlichen Falle geworden. Die junge Polin weiß nur einen Ausweg: Sie springt.

Die 32-jährige Polin kam im März nach Croydon, weit im Süden von London, um ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. Mit ihrer Schwester Beata wollte sie in England glücklich werden. "Sie ist traumatisiert, weil sie nur knapp dem Tod entkam", erzählt die Schwester der englischen Presse. Wenig später meldet sich die Heldin selbst zu Wort: "Es war schrecklich. Ich war in meiner Wohnung gefangen, und es gab keinen Ausweg. Ich dachte, ich würde sterben", sagt Konczyk der englischen Zeitung Daily Mail.

Unter Monikas Fenster stapeln Nachbarn Kissen und Matratzen. Helfend streckt eine Gestalt am Boden die Arme aus. Ihr Nachbar Adrian steht vor dem Haus und kann die Frau auffangen.

[] Murphy's Law

Schlecht vorbereitet, falsche Taktik, zu rücksichtsvoll: Die Londoner Polizei musste in den vergangenen Tagen viel Kritik einstecken. Doch die Geschichte von Gordon Murphy ist ein Volltreffer für die Presseabteilung der Metropolitan Police.

Der Auftrag für den Beamten war einfach: Murphy sollte mit fünf Kollegen die Läden in Catford, im Südosten Londons bewachen, als vermummte Jugendliche die Polizisten angreifen. Nicht eine Handvoll Jugendlicher, nicht zehn, nicht zwanzig, nein vierzig, nach anderen Darstellungen gar 50 Jugendliche stürmen auf die sechs Polizisten los, die nur mit Schlagstöcken und zwei Schilden bewaffnet sind.

"Sie wollten uns erschrecken, damit wir wegrennen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Der Gedanke kam uns auch, aber ich bin Polizist", zitiert die Sun den stolzen Polizisten. Statt wegzurennen, warfen sich die Beamten den Plünderern entgegen - und schlugen sie so in die Flucht.

Die britische Presse nennt Gordon Murphy nun: Hero Cop.

[] Die Heldin von Hackney

"Ich schäme mich, aus Hackney zu kommen", ruft Pauline Pearce. Es ist der Höhepunkt ihrer furiosen Wutrede, mit der die dunkelhäutige Frau ihrem Ärger über die Ausschreitungen in ihrem Stadtteil Luft macht - und so zum Star auf YouTube wird. Hunderttausende haben dort das Video bereits angesehen.

Es ist dunkel, die Kamera erfasst die 45-Jährige nur schemenhaft. Sie steht vor einer Wand auf der "Fuck Cameroon" steht, was Kommentatoren im Internet rätseln lässt, ob der Sprayer feindlich gegenüber dem afrikanischen Land gesinnt ist, oder schlicht den Namen des britischen Premier nicht schreiben kann.

So viel ist jedenfalls sicher: Der Bürgersteig in der Clarence Road ist gezeichnet von den Krawallen. Mit ihrem Gehstock verstärkt Pearce die Wucht ihrer Worte: "Eine Frau arbeitet hart, damit ihr Geschäft läuft, und dann kommt ihr und zündet es an. Warum macht ihr das? Um zu zeigen, dass ihr Krieger seid, böse Jungs?! Hier geht es verdammt noch mal um einen Mann, der in Tottenham erschossen wurde. Nicht um den Spaß an Krawall."

Ihre Stimme hallt durch die Dunkelheit. Von randalierenden Jugendlichen oder brennenden Autos ist kaum noch etwas zu hören. "Wenn ihr kämpfen wollt, dann kämpft für eine Sache. Aber wir stehen nicht zusammen, um für eine Sache zu kämpfen, wir rennen los und plündern Footlocker. Wacht endlich auf!"

[] Der Junge und die bösen Samariter

Asyraf Haziq sitzt am Boden und hält die Hand vor den Mund. Wenige Sekunden später ist zu sehen, wie der 20-jährige Wirtschaftsstudent blutet, viel später wird er erzählen, dass ihm der Kieferknochen gebrochen wurde und er mehrere Zähne verloren hat. Doch nun sitzt Haziq am Boden und ist wahrscheinlich erleichtert, als ein Jugendlicher sich zu ihm herunterbeugt und ihm auf die Beine hilft.

Ein Passant filmt die Szene, die sich im Nordosten Londons im Stadtteil Barking abgespielt hat. Das Video stellt er ins Netz, wenig später greifen es Fernsehstationen auf und Premierminister David Cameron zitiert den Fall als Beispiel für die moralische Verwahrlosung in Teilen der Gesellschaft. Denn was nun passiert, zeigt, wie skrupellos manche Krawallmacher vorgehen.

Der Junge ist ganz offensichtlich noch nicht ganz bei Sinnen, er hält sich noch immer die Hand vor den blutenden Mund. Da bemerken die vermeintlichen Samariter, dass der Junge einen Rucksack trägt - sie rauben den 20-Jährigen kurzerhand aus.

Der Vorfall hat Haziq viele Sympathien eingebracht. Unter dem Hashtag #getwellsoonashrafhaziq spenden sie Trost und schicken dem Studenten Genesungswünsche. Auf einer Pressekonfernz antwortet Haziq auf die Frage, was er für seine Peiniger empfindet: "Sie tun mir leid."

[] 15-Jähriger rettet Mutter vor Mob

Er sprintet sofort los und rennt drei Kilometer, um seine Mutter zu retten. Er kämpft sich durch die Menschenmenge - ohne darüber nachzudenken, in welche Gefahr er sich selbst gerade begibt: 15 Jahre ist Iftikhar Ahmed gerade einmal alt. Und der Teenager stellt sich einem Mob von zwölf Männern mit Baseballschlägern entgegen.

Die sind auf seine Mutter Rashida Ahmed losgegangen, als diese sich gerade auf dem Nachhauseweg befand. Die Männer beschimpfen sie, schubsen sie herum, beginnen, auf sie einzuschlagen. Irgendwie gelingt es der 39-Jährigen, die Nummer ihres Sohns zu wählen. Den beiden gelingt es zu fliehen, die Gang verfolgt sie jedoch und bewirft sie mit Steinen.

Ein vorbeifahrender Autofahrer erkennt die Situation und hält an, um die beiden aus der Gefahrenzone zu bringen, berichten englische Zeitungen. Iftikhar Ahmed hat es geschafft: Seine verletzte Mutter und er sind in Sicherheit. Sie sind dem Mob entkommen. Derzeit kuriert Rashida Ahmed ihre Prellungen im Gesicht und am Rücken aus. "Ich bin meinem Sohn so dankbar. Er ist so tapfer. Er hat mein Leben gerettet", zitieren britische Medien die Frau.

Mit Iftikhar Ahmed hat Birmingham bereits seinen zweiten Helden. Landesweite Beachtung fand auch das Schicksal von Tarik Jahan, der zusehen musste, wie sein Sohn verblutete, und dem es später durch einen bedächtigen Friedensappell gelang, die Masse zu beruhigen.

[] Eine Musikerin, der nach einem Brand nur die Violine bleibt

Es ist Montagabend. Leni White sitzt gemeinsam mit ihrem Freund auf der Couch und schaut Nachrichten, als das Gegröle auf der Straße losgeht. "Lasst uns ein Feuer machen", sollen die Vandalen gerufen haben. Die beiden sehen, dass die Jugendlichen Molotowcocktails bei sich haben.

White ergreift mit ihrem Freund die Flucht. Durch die Hintertür. Kurze Zeit später fliegt tatsächlich eine Brandbombe in ihre Wohnung im Stadtteil Ealing im Westen Londons. Die Einrichtung fängt sofort Feuer. Die Feuerwehr versucht zu retten, was zu retten ist. Doch der Sachschaden geht in die Zehntausende.

Leni White muss an ihre wertvolle Violine denken. Sie ist Musikerin. In der Szene nennt man sie auch die "Amy Winehouse der klassischen Musik". Sie spricht mit den Feuerwehrmännern, bittet sie inständig, ihr Instrument aus den Flammen zu holen.

Einer der Männer lässt sich breitschlagen. Er geht zurück in die Wohnung und holt die Violine. Sie liegt unversehrt in ihrem Koffer. Der mutige Feuerwehrmann, der Held dieser Geschichte, bleibt anonym. Doch die Künstlerin bedankte sich später bei ihm, berichten britische Zeitungen. "Nachdem ich alles verloren habe, kann ich gar nicht beschreiben, wieviel es mir bedeutet, meine Violine zurück zu haben", sagte die Künstlerin.

© sueddeutsche.de/maza/Anja Treiber - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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