Grüne:Leben im Schatten

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Migration ist eigentlich ein Herzensthema der Partei, dennoch spielt sie in der Debatte bislang keine Rolle. Nervös will man vermeiden, dass es wieder zum innerparteilichen Bruch in der Asylpolitik kommt.

Von Stefan Braun, Berlin

Ska Keller, die grüne Europa-Abgeordnete aus Deutschland, hat derzeit eine ungewohnte Aufgabe. Immer wieder muss die 33-Jährige Medien und EU-Kollegen erläutern, warum Deutschland und die Kanzlerin so nett sind, so hilfsbereit, so offen für Flüchtlinge. "Alle sagen, großartiges Deutschland. Sie sagen, tolle Frau Merkel. Und ich muss erklären, was da passiert ist." Keller muss schmunzeln bei diesen Sätzen. Sie räumt ein, dass das nicht leicht ist. Immerhin gehört die linke Grüne nicht zu denen, die Berlins Flüchtlingspolitik bislang gut fanden. Gemessen an der Stimmung in Brüssel und Straßburg bleibt ihr jedoch gar nichts anderes übrig, als "die positive Änderung" zu begrüßen.

Kellers neue Welt beschreibt ganz gut, in welcher komplizierten Lage sich die Grünen insgesamt befinden. Seit Monaten gibt es in Deutschland vor allem ein Thema: die Flüchtlinge. Doch obwohl es von jeher zu den Herzensthemen der Grünen gehört, spielt die Partei in den Debatten bisher keine herausgehobene Rolle. Zu wichtig sind die akuten Probleme und ihre Lösung durch die Regierung; zu wenig ist eine grüne Stimme gefragt, um mögliche Kompromisse auszuloten. Als die Parteispitze Mitte der Woche nach einer Klausur zur Pressekonferenz einlud, war gerade mal eine Handvoll Journalisten gekommen, um zu hören, wie die Co-Vorsitzende Simone Peter der Regierung Versäumnisse vorwarf, vor einer Abschaffung des Asylrechts warnte und der Union den Kampf ansagte, sollte sie für Wirtschaftsmigranten die Asylbedingungen erschweren.

Gleichwohl müssen sich die Grünen derzeit keine Sorgen machen. Ihre Umfragewerte kletterten zuletzt auf elf bis zwölf Prozent. Das kann sie einigermaßen gelassen bleiben lassen. Zumal ihnen das Leben im Windschatten die Chance gibt, ausführlicher und ohne dauernde Medienkritik über die Pläne für die Zukunft zu diskutieren. Sei es im Parteivorstand, der vor der Pariser Weltklimakonferenz noch einmal ein Aktionsprogramm zum Thema formulierte. Sei es im Fraktionsvorstand, der Ende der Woche über Haushalt, NSA und natürlich die Flüchtlingskrise diskutierte. Dass im Herbst auch die Wiederwahl des derzeitigen Führungsquartetts in Partei und Fraktion ansteht, ließ sich im Schatten der aktuellen Krise in beiden Gremien recht entspannt ignorieren.

Auf keinen Fall will die Partei einen neuen internen Asylstreit riskieren

Nur an einer Stelle sind derzeit alle Grünen hoch konzentriert bis nervös: Auf keinen Fall wollen sie zulassen, dass sich die Katastrophe vom Herbst 2014 in den nächsten Wochen wiederholen könnte. Damals war es zwischen den Bundesgrünen und dem grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann zum offenen Bruch über die Asylpolitik gekommen. Um Ähnliches zu verhindern, wenn in Kürze Bund und Länder wieder eine Einigung im Umgang mit der Flüchtlingskrise brauchen, vergeht kein Tag ohne Abstimmung. Ergebnis: Binnen zwei Wochen beschlossen Vertreter des Bundes und der Länder zwei Papiere zur Flüchtlingskrise. In dem Fünf-Punkte-Plan fordern sie für Migranten aus den Westbalkan-Staaten unter anderem "Einwanderungskorridore", also Kontingente, mit denen eine legale Arbeitszuwanderung möglich gemacht würde. Gleichzeitig lehnen sie eine Änderung am Grundgesetz ab; derlei, so heißt es in der Partei, wäre "politischer Selbstmord".

Letzteres ist pikant. Denn ausgerechnet der Schleswig-Holsteiner Robert Habeck, der Spitzenkandidat im Bund werden möchte, hatte jüngst die Idee geäußert, man könne das starre System der sicheren Herkunftsländer durch einen Automatismus ersetzen, der Asyl-Verfahren verkürzt, wenn die Anerkennungsquote sehr gering ist. Habeck hatte nicht für eine Grundgesetzänderung geworben, aber seine Idee hätte dorthin führen können. Als das Bundesinnenministerium nun Habecks Vorschlag aufgriff und zu Ende formulierte, fürchteten viele Grüne, hier könnte sich ein zweiter Herbst 2014 entwickeln. Ergebnis: Schaltkonferenz. Neuer Fünf-Punkte-Plan. Kein Wort mehr zu Habecks Automatismus.

© SZ vom 05.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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