Gipfeltreffen in Lissabon:Der lange Weg zur Nato 3.0

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Die Nato erfindet sich in Lissabon mal wieder neu: Neue Aufgaben werden definiert, eine neue Strategie entworfen. In der Geschichte des Bündnisses ist das schon des Öfteren vorgekommen. Ein Überblick.

Malte Conradi

Wenn an diesem Freitag und Samstag die Staatschefs der 28 Nato-Mitglieder zum Gipfeltreffen in Lissabon zusammentreffen, dann kommen sie eigentlich einige Jahre zu spät. Nicht weniger haben sie sich vorgenommen, als das größte Militärbündnis der Welt fit zu machen für eine völlig veränderte Weltlage. Die Gipfelteilnehmer wollen ein neues strategisches Konzept beschließen, das klären soll, welche Rolle die Nato künftig in der Welt spielen soll.

Baustelle Nato: Vor Beginn des historischen Gipfeltreffens in Lissabon legen Arbeiter am Tagungsort letzte Hand an. (Foto: dpa)

Das bislang gültige strategische Konzept stammt noch aus dem Jahr 1999, aus einer Zeit also, als Terrorismus noch als untergeordnetes Problem galt, als Kriege fast ausschließlich zwischen Staaten geführt wurden, als Piraterie nicht mehr als eine romantische Vorstellung war und als kaum jemand daran dachte, dass Kriege auch über das Internet geführt werden können.

Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen will die Allianz in Lissabon endlich auf diese neuen Gefahren einstellen. Schlanker, billiger und mobiler soll die Nato dafür werden, sie soll ihr Verhältnis zu Russland klären und eine eigene Raketenabwehr bekommen. Auch eine Regelung für Einsätze außerhalb des Bündnisgebiets will Rasmussen finden. Der Däne nennt den Lissabonner Gipfel einen der wichtigsten in der Geschichte der Nato.

Es ist nicht das erste Mal, dass das Bündnis sich eine neue Strategie verordnet. Ein Überblick.

Am Anfang der Nato stand ein Scheitern. Die beiden einzig verbliebenen Weltmächte, die USA und die Sowjetunion, hatten es nach dem Ende des gewonnenen Zweiten Weltkriegs nicht vermocht, ihre rasch zutage tretenden Differenzen unter dem Dach der Vereinten Nationen beizulegen.

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:Die Expansion der Nato

1949 fing das nordatlantische Verteidigungsbündnis mit zwölf Mitgliedern an. Inzwischen sind es 26 - und die nächsten stehen vor der Tür.

Mit der Unterzeichnung des Nordatlantikvertrags (North Atlantic Treaty Organsiation = Nato) durch die USA, Kanada und zehn europäische Staaten im April 1949 wurde nur ein Ziel verfolgt: ein Verteidigungsbündnis gegen die Sowjetunion und ihre verbündeten Staaten in Osteuropa zu schaffen.

Kern des Gründungsvertrags ist Artikel 5. In ihm vereinbarten die Vertragsparteien, "dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen wird". Allerdings sieht der Nordatlantikvertrag keine Beistandspflicht vor, es ist also allen Staaten freigestellt, wie sie einem angegriffenen Partner zu Hilfe kommen wollen. In Artikel 1 des Vertrags übernahmen die Gründungsstaaten die Pflicht zur friedlichen Streitschlichtung aus der Satzung der Vereinten Nationen.

Das erste strategische Konzept der Nato spiegelt die angespannte Atmosphäre zwischen Ost und West wider. Unter dem frischen Eindruck der Berlin-Blockade und des ersten sowjetischen Atomtests verabredete die Nato im Dezember 1949, dass jeder Mitgliedsstaat gemäß seiner Möglichkeiten auf einen möglichen Angriff aus dem Osten antworten würde.

Für die Bereitstellung von Bodentruppen, die taktische Luftkriegsführung sowie die Luftabwehr sollten die Europäer zuständig sein. Amerikanern und Briten kam die Verantwortung zu, auf dem Seeweg Nachschub an den Kriegsschauplatz zu schaffen. Angesichts der zahlenmäßigen Übermacht der sowjetischen Truppen wurde in dem Konzept auch die strategische Bombardierung unter Einsatz aller Waffen - also auch von Atombomben - erwähnt. Dies wäre eine Aufgabe der USA gewesen.

Als nordkoreanische Truppen im Sommer 1950 nach Südkorea einmarschierten, wuchs in Westeuropa und den USA das Gefühl der Bedrohung durch die Sowjetunion und ihre Verbündeten. Die Armeen Westeuropas lagen nach dem Zweiten Weltkrieg am Boden und waren der Sowjetunion nicht nur zahlenmäßig unterlegen, sondern aus Sicht der Nato-Strategen auch dramatisch unterfinanziert.

Unverzüglich machten die Nato-Staaten sich daran, die Abschreckungskraft des Bündnisses zu erhöhen. Das 1952 beschlossene neue Strategiekonzept legte ein noch deutlicheres Gewicht auf die amerikanischen Atomwaffen. Noch immer allerdings wurden sie nicht ausdrücklich genannt, weiterhin war die Rede von "allen Waffengattungen".

Eine weitere Lehre aus dem Koreakrieg: Die Nato-Staaten vereinbarten eine "Vorwärts-Strategie". Um einem Angriff möglichst weit im Osten begegnen zu können, wurde 1955 die junge Bundesrepublik in das Bündnis aufgenommen, in den Jahren zuvor waren schon die ebenfalls strategisch günstig gelegenen Staaten Griechenland und Türkei beigetreten. Der Plan sah vor, einem sowjetischen Einmarsch alle verfügbaren konventionellen Streitkräfte entgegenzuwerfen und zugleich eine Gegenoffensive mit amerikanischen Atombomben zu starten.

Die zweite Hälfte der fünfziger Jahre war geprägt von einer massiven Aufrüstung und Stärkung der Nato. Die Bundeswehr wurde aufgebaut, in großem Stil Nuklearwaffen hergestellt und auch in Europa stationiert. Mit dem dritten Strategiekonzept der Nato von 1957 verschärfte sich passend zur eisigen Atmosphäre zwischen dem atlantischen Bündnis und dem inzwischen gegründeten Warschauer Pakt auch die Sprache. Ab sofort war von einer "massiven Vergeltung" die Rede, nicht mehr von Verteidigung.

Jeder sowjetische Angriff, egal ob konventionell oder atomar, würde mit Atombomben beantwortet werden. In dem unter Verschluss gehaltenen Papier hieß es: "Sollten die Sowjets an kriegerischen Handlungen beteiligt sein und diese ausweiten oder verlängern, wäre der Einsatz aller der Nato zur Verfügung stehenden Waffen und Kräfte unumgänglich, denn unter keinen Umständen ist ein begrenzter Krieg mit den Sowjets vorstellbar."

Weil die Sowjetunion inzwischen selbst über Interkontinentalraketen verfügte, wurde der Wettbewerbsvorteil der Nato immer kleiner. Begriffe wie "wechselseitig zugesicherte Zerstörung" ( mutual assured destruction kurz MAD) kursierten.

Als die DDR 1961 die Berliner Mauer errichtete und die Sowjetunion ein Jahr später mit der Stationierung von Raketenbasen vor der amerikanischen Haustür die Kubakrise heraufbeschwor, stand die Welt am Rande eines Atomkriegs. Immer größer wurden die Zweifel, ob das "Gleichgewicht des Schreckens" die Welt tatsächlich vor einem Inferno würde bewahren können.

Die Nato überarbeitete ihre Strategie ein weiteres Mal und ersetzte die "massive Vergeltung" 1968 durch die "flexible Erwiderung". Der Gegner sollte im Dunkeln darüber gelassen werden, wie die Nato auf eine Aggression reagieren würde. Von der bloßen Abwehr eines Angriffs bis hin zum nuklearen Gegenschlag sollte den Nato-Armeen jede Möglichkeit offenstehen.

Seit den späten sechziger Jahren bemühte die Nato sich zugleich immer mehr um eine politische Entschärfung des Konflikts mit den Warschauer-Pakt-Staaten und um eine gemeinsame Abrüstung. Die "flexible Erwiderung" war die bislang langlebigste aller Nato-Strategien, sie blieb bis zur Auflösung des Warschauer Pakts und der Sowjetunion gültig.

1991 brach auch für die Nato eine neue Ära an. Mit dem Ende des Kalten Krieges stand sie plötzlich ohne Gegner da, nicht wenige sahen sie damit ohne Daseinsberechtigung.

Das Bündnis reagierte auf die neue Weltordnung, indem es Tausende Nuklearsprengköpfe aus Europa abzog. Fortan wollte es Frieden und Stabilität für ganz Europa und nicht mehr nur den westlichen Teil sichern.

Das neue Strategie-Konzept sah erstmals nicht mehr die Konfrontation mit einem Gegner vor. Stattdessen suchte die Nato die Partnerschaft mit den ehemaligen Feinden im Osten, sah sich als Krisenmanager im europäischen Einigungsprozess und als Wächter über die Abrüstung.

Zu ihrem 50. Geburtstag beschenkte die Nato sich 1999 mit einem weiteren Strategie-Papier. Die Annäherung an Russland und der Aufbau von schnellen Eingriffstruppen für lokale Krisen standen nun im Mittelpunkt. Doch das Papier konnte nicht verhehlen, dass das Bündnis noch auf der Suche war nach neuen Aufgaben.

Nur zwei Jahre später war die neue Aufgabe da und das Konzept veraltet. Die Anschläge von 9/11 lösten zum ersten Mal in der Nato-Geschichte den Bündnisfall nach Artikel 5 des Gründungsvertrags von 1949 aus, der Militäreinsatz in Afghanistan steht seit 2003 unter Nato-Kommando.

Doch das inzwischen um zahlreiche osteuropäische Staaten gewachsene Bündnis ist bislang noch immer auf einen Krieg zwischen Staaten ausgerichtet. Kleinen extremistischen Zellen, die ohne Kriegserklärung angreifen, hat das Bündnis wenig entgegenzusetzen. Der gegenwärtige Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen nennt die Zeit nach 2001 die dritte Ära der Nato. Für die will das Bündnis sich nun in Lissabon rüsten.

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