Gesundheitsreform in den USA:Unversöhnliche Staaten

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Rechte und Linke in den USA zerfleischen sich über Versicherungspflicht und öffentliche Ersatzkassen. Obama muss sich bei der Gesundheitsreform mit kleinen Schritten begnügen, denn Amerikas Charakter lässt sich nicht in einer Legislatur verändern.

Christian Wernicke

Ted Kennedy hat nie die Schlacht gescheut. Dieser Demokrat liebte den Streit, und doch stand der "Löwe des Senats" im Ruf, ein Meister des Kompromisses zu sein. Vor zwei Wochen hat ihn seine Nation zu Grabe getragen - als einzigen von drei Brüdern, dem es vergönnt war, alt zu werden in Amerikas brutaler, bisweilen mörderischer Politik.

Sein Geist lebt fort. Ganz Washington hielt diese Woche den Atem an, als Barack Obama Zeilen aus dem letzten Brief seines Ziehvaters vorlas. Es sei "die große, unvollendete Sache unserer Gesellschaft", im reichsten Land der Welt endlich jedem Bürger ein Recht auf Gesundheitsversorgung zu gewähren. Der posthume Zwischenruf erinnerte den Kongress daran, was auf dem Spiel steht: Es gehe um "fundamentale Prinzipien der Gerechtigkeit", schrieb Kennedy, letztlich gar "den Charakter unseres Landes".

Es sagt viel aus über die politische Kultur einer Nation, wenn es die Hilfe eines Toten braucht, um für einen Moment abzulassen von Grabenkriegen und Kampfritualen. Ted Kennedy stellte den Vereinigten Staaten die Charakterfrage: Wie solidarisch will diese Gesellschaft sein, wie viel Gemeinwesen mag eine Nation sich leisten, deren Gründungsmythen zumeist von unbändiger Freiheit und einem ewig stolzen, meist heldenhaften, nur selten ruchlosen Individualismus erzählen?

Eine Phalanx von Präsidenten hat sich abgearbeitet an dem Versuch, dem Volk dazu eine halbwegs einhellige Antwort abzuringen. Teddy Roosevelt, Harry Truman, Bill Clinton - sie alle scheiterten. Nun wagt Obama seine Reform, und es sind bereits 47 Millionen Menschen ohne Krankenversicherung. Das tötet: 18.000 Männer, Frauen und Kinder sterben jedes Jahr in den USA, weil sie ohne Versicherungsschutz den Gang zum Arzt scheuen. Statistisch betrachtet sind pro Stunde zwei Tote zu beklagen, oder - weil die Nation diese Sprache versteht - sechs Mal im Jahr ein Opfer wie am 11.September.

Unerträglicher Nahkampf

Keine europäische Gesellschaft könnte solche Zahlen politisch ertragen. Schon gar nicht die Deutschen. Zwar mögen alle vier Jahre Millionen Bundesbürger verzweifeln an der elenden Langeweile des teutonischen Wahlkrampfes. Aber jene Art von zivilem Krieg, in dem sich die Amerikaner im Streit um banalste Details ihrer Gesundheitsreform niedermachen, würde die Berliner Republik nicht aushalten. Man stelle sich vor: In Quakenbrück oder Hoyerswerda kämen Merkel-Gegner mit geladenem Gewehr zur Versammlung. In Flensburg, Stendal und Rosenheim brüllten Protestler die Regierung mal als Nazis, mal als Kommunisten nieder. Oder irgendwo sonst würde sich im Gemeindesaal ein Wähler als "rechtsextremer Terrorist" hervortun, worauf ihm der Herr Abgeordnete entgegenruft: "Gott segne Sie, Amen!"

So geht es zu in dem Amerika, das nun Barack Obama regiert. Nicht um die blutigen Kriege im Irak und in Afghanistan ringt die Nation bis aufs Messer - da kennt man nur Patrioten. Nein, Rechte und Linke zerfleischen sich über Versicherungspflicht und öffentliche Ersatzkassen. Beide Seiten sind dabei hemmungslos, voller Hingebung und Hass. Denn im politischen Gegner erkennen sie nicht den Nachbarn, den Mitbürger - sie sehen nur das andere Amerika, mit dem sie nichts zu tun haben wollen.

Kein Politiker hat die innere Spaltung seines Mutterlandes so eloquent, so eindringlich beschrieben wie Barack Obama. Seine Kadenz aus dem Jahr 2004 über die Vereinigten Staaten, die zu zerfallen drohten in ein rotes (republikanisches) und ein blaues (demokratisches) Amerika, stehen am Beginn des Marsches, der ihn im Januar 2009 ins Weiße Haus führte. Und doch tat dieser Heilsprediger und Konsenspolitiker merkwürdig überrascht, ja überrumpelt, als im August der Kulturkampf um "Obama-Care", seine Kassenreform, losbrach. Dabei holte ihn nur ein, wovor er immer gewarnt hatte: die Zerrissenheit, die politische Balkanisierung der USA.

Getrennte Wege

Die Hälfte aller Bürger lebt in Wahlkreisen, die mit 20 oder mehr Prozentpunkten Vorsprung immer an die Roten oder an die Blauen fallen. Millionen Republikaner und Demokraten reden nicht mit "den anderen" - wie auch, wenn sie ihnen nie begegnen. Sie beten in unterschiedlichen Kirchen, gehen auf getrennten Wegen in Steakhouse und Öko-Laden und konsumieren - per Internet oder über einen ideologisch strammen TV-Kabelkanal - Nachrichten, die sich einfügen ins eigene Weltbild.

Die Neigung zur Flucht in die rechte und linke Subkultur nimmt mit steigendem Bildungsgrad sogar zu: Wer studiert hat, verdient mehr und kann es sich leisten, das Wohnviertel, den Country-Club und die Schule der Kinder genau auszusuchen.

Der Traum, die Wahl eines schwarzen Newcomers allein könne die alten Gräben vergessen machen, war immer naiv. Nun, da die Bürgerversammlungen eskalieren und im Kongress ein rechter Polterer den Präsidenten einen Lügner schimpft, ist die Illusion geplatzt. Hinter Obama, dem Propheten des Wandels, steht kein neues, parteiübergreifendes Bürgerbündnis. Im Gegenteil, sein Programm zur sozialen wie ökologischen Erneuerung der Weltmacht hat reflexartig die Gesellschaft entlang tradierter Frontlinien Aufstellung nehmen lassen. Nein, jene breite, bunte, den Nächsten wie das Vaterland liebende Koalition, die Obama so gern als die wahrhaft "Vereinigten Staaten" beschwört - es gibt sie nicht. Dies ist vielmehr die Aufgabe, vor der er als Präsident nun steht: Die gesellschaftliche Mehrheit, die seinen Aufbruch mitträgt, muss er stetig und jeden Tag neu schmieden.

Für eine Wende nach links nicht zu haben

Das versucht Obama nun. Er wird bescheidener, berechnender, er will das sozialkonservative und evangelikale Amerika rechts liegen lassen. Wohl aber braucht er die gemäßigte Rechte - und jene Wähler, die sich angesichts des fundamentalistischen Niedergangs der Republikaner nun zu den unabhängigen zählen. Diese Massen sind für eine Wende nach links nicht zu haben. Sie plagt die ewige, für Europäer unbegreifliche Angst vor der Machtergreifung des Staates, vor Big Government. Entsetzt sehen sie mit an, wie Obama Großbanken und Autokonzerne rettet oder die Schulden in die Höhe treibt.

In der Finanz- und Wirtschaftskrise war Obama zu Reparatur-Arbeiten gezwungen. Nun möchte er die Zukunft gestalten, die Gesellschaft nach seinem Bild formen, aber es fehlt ihm das Kapital. Nur acht Monate nach seinem Amtsantritt muss er die Amerikaner erneut für sich gewinnen. Will er sie mitnehmen, kann er nur sehr kleine Schritte mit sehr pragmatischen Reformen gehen.

Amerikas Charakter lässt sich nicht in einer Legislatur verändern. Ted Kennedy hat es ihm auf dem Sterbebett gesagt. Der alte Mann hatte es sich nie verziehen, dass er ein Angebot von Richard Nixon zum bescheidenen Aufbau einer Krankenversicherung abgelehnt hatte. Kennedy wollte alles, er bekam nichts. Obama schwor seinem Ziehvater, diesen Fehler niemals zu wiederholen.

© SZ vom 12.09.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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