Gastkommentar:Gerechtigkeit

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Die Kolumne der kroatisch-deutschen Schriftstellerin Jagoda Marinić, 40, erscheint alle vier Wochen samstags an dieser Stelle. (Foto: a)

Martin Schulz will die soziale Frage zu seinem zentralen Thema machen. Doch die Debatte über Flüchtlinge und innere Sicherheit hat diesen Begriff inzwischen pervertiert.

Von Jagoda Marinic

Das Museu Nacional d'Art de Catalunya in Barcelona zeigt derzeit eine internationale Ausstellung: Uprisings. Aufstände. Sie beginnt mit der Bewegung an sich, den physikalischen Aspekten, dem Impuls. Was setzt das Meer in Bewegung? Wie gelingt es einem Menschen, sich aus der Masse herauszuheben oder die Masse mit in die Bewegung zu nehmen? Dreihundert Ausstellungsstücke über Aufstände, zivilen Ungehorsam und soziale Bewegungen. Die Geschichte dieser Aufstände ist auch eine Geschichte des langwierigen Kampfes um Gerechtigkeit. Bilder von Menschen aus allen Gegenden der Welt, die für ihr Unrechtsempfinden mit dem Leben bezahlt haben. Schlichte Bilder großer Bewegungen.

Martin Schulz nimmt nun das Wort Gerechtigkeit in den Mund, als wäre es ein Bonbon: Je länger er den Begriff nutzt, desto mehr verflüssigt er sich. Fragt man Schulz, was er für eine gerechtere Gesellschaft tun möchte, antwortet er beispielsweise: Es müssten mehr Kitaplätze her. Die Mütter, deren Arbeitszeit dadurch verfügbar würde, finden sich oft im Niedriglohnsektor wieder. Ist das gerecht? Tief geht das noch nicht.

Der Rechtsruck der Mitte ist vollzogen. Die großen Probleme sollen außer Landes bleiben

Gehen wir achtzehn Monate zurück, als das Thema Gerechtigkeit allgegenwärtig war in diesem Land: Täglich gelangten neue Menschen auf der Flucht nach Deutschland, bis die Kommunen sich überlastet sahen. So könne das nicht weitergehen, neben der Gefährdung für die innere Sicherheit ginge es um den sozialen Frieden. Man müsse die Wut der Bürger verstehen, es gehe ihnen schlecht. Vor und nun auch nach dieser Krise sagten solche Politiker bevorzugt Sätze wie: Deutschland gehe es so gut wie nie. So manche Politiker, die sonst den Abbau des Wohlfahrtsstaates vorantreiben, wollten sich in jener Zeit keinen Rassismus vorwerfen lassen und inszenierten sich als Verteidiger der wirtschaftlich Abgehängten. Ihr Lösungsangebot lautete paradoxerweise nicht mehr Gerechtigkeit, sondern mehr Nationalismus. Auch die Verängstigten seien in keinem Fall Rassisten, sondern von Altersarmut bedrohte Bürger, vor die solche Politiker sich schützend stellten - während hinter ihrem Rücken Flüchtlingsheime brannten. In der Fragestellung hatten die Wütenden und ihre politischen Anwälte recht. Mit den Antworten machten sie jedoch die Bedürftigsten zu Sündenböcken, statt die Gerechtigkeitsfragen im Kern anzugehen.

Für die SPD hätte diese Wut den Weg weisen können, um zu sich selbst zurück zu finden. Doch seit weniger Flüchtlinge kommen, hat sich die Wut über soziale Ungerechtigkeit gelegt. Einwanderung ist kein erfolgreich besetzbares Angstthema mehr, was an den Wahlergebnissen der AfD ablesbar ist. Der Rechtsruck der Mitte ist vollzogen: Man hofft darauf, die großen Probleme wieder außer Landes zu halten. Inzwischen sind alle ein bisschen AfD. Nach der Niederlage in NRW war es höchste Zeit für Schulz, seine Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit zu konkretisieren. Stattdessen präsentierte die SPD ein abgedroschenes Programm für innere Sicherheit, das Thomas de Maizière hätte schreiben können. Natürlich müssen Bürger vor dem Staat geschützt werden. Nur wie? Und wo beginnt das?

Sicherheit ist ohne soziale Gerechtigkeit nicht zu haben. Soziale Gerechtigkeit aber ist keine Frage, die sich nur innerhalb der eigenen Grenzen beantworten ließe. Die Banalisierung großer gesellschaftlicher Konzepte vollzieht sich momentan dort, wo diese Demokratie Räume politischer Willensbildung geschaffen hat: in den Parteien. Statt über Missstände aufzuklären, werden je nach Parteiklientel Statistiken präsentiert, die eine Gruppe gegen die andere aufbringt. Doch die Gerechtigkeitsfrage, das haben die letzten Monate gezeigt, erschöpft sich nicht in der Frage nach Umverteilung, vor allem dann nicht, wenn auch jene mehr zahlen sollen, die selbst mit den Ungerechtigkeiten dieser Wirtschaftsordnung zu kämpfen haben. Die Mitte, von der aus umverteilt werden soll, ist keine Wohlstandsmitte mehr wie zu Zeiten der BRD. Gerechtigkeit, das ist auch die Arbeit am Unrechtsempfinden einer Gesellschaft. Gerechtigkeit ist ohne Solidarität und Empathie nicht denkbar.

Es scheint jedoch nicht mehr klar zu sein, was Bürger überhaupt noch von ihrem Staat erwarten können. Zu schnell einigt man sich derzeit auf den kleinsten gemeinsamen Nenner: Sicherheit. Immer weniger Bürger sind sich der Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland bewusst. Nach den letzten Landtagswahlen erklärten viele im Rahmen der Umfragen, es gehe ihnen gut, Sicherheit sei das Problem. Doch jene, denen es nicht gut geht, werden leicht zum Sicherheitsproblem. Diese Verbindung nicht zu ziehen, ist mindestens so gefährlich wie Fake News zu verbreiten, weil eben jener Zorn über Ungerechtigkeit ausbleibt, der zu Umbrüchen führt. Als die Flüchtlinge kamen, wurden für einen kurzen Moment die richtigen Fragen gestellt. Der Zorn war da, der Zorn auf die Falschen, weil sie die schwächsten Glieder in dieser Weltordnung sind. Nach Jahrzehnten der Ich-AGs und Förderung von Start-up-Fanatismus hat sich die Idee des amerikanischen Traums auch hierzulande etabliert. Jeder, der etwas werden will, arbeitet an sich selbst oder bastelt an seiner Hochglanzhomepage, erstellt einen Business-Plan oder lässt sein Ego durch Coaching auf Erfolg trimmen. Menschliche Verletzbarkeit hat da keinen Platz. Statt von Gerechtigkeit träumt man von ewiger Jugend und meint, Krankheiten wären mit grünen Smoothies und aufgequollenen Chia-Samen abwendbar.

Was ein Bürger dagegen von seinem Staat erwarten kann, tritt immer weiter in den Hintergrund. Die Debatte über Kumulation des Weltvermögens in den Händen weniger, über die Privatisierung der Rohstoffressourcen und Ausbeutung von Mensch und Erde bleibt ein Nischenthema. Der bezifferte Mensch, der noch im Krankenstand für die Klinik Profite erwirtschaften soll, ist Normalität geworden. Wer das Wort Gerechtigkeit in den Mund nimmt, sollte versuchen, die Ungerechtigkeit scharf zu umreißen, bis die Unnormalität, die wir derzeit die Normalität nennen, sichtbar wird.

© SZ vom 20.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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