Führungsstil der Kanzlerin:Führen durch Nichtführen

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Die Kanzlerin schafft es nicht, den Deutschen die Folgen der Finanz- und Eurokrise zu erklären - denn sie hat keine klare Europastrategie, sondern reagiert nur auf die Innenpolitik. Für ihren Politikstil wird Merkel einen hohen Preis zahlen.

Joschka Fischer

Seit dem Ausbruch der Finanzkrise im September 2008 geht es in der EU drunter und drüber. Einerseits hat der Euro die Eurozone und vor allem die Exportwirtschaft Deutschland vor den schlimmsten Attacken der Märkte und dem Chaos von Auf- und Abwertungen erspart. Andererseits hat diese Krise in ihrem zweiten Teil die politische Schwäche des Euro gnadenlos offengelegt: Die Eurozone verfügt nur über eine Währungs-, nicht aber über eine Wirtschafts- und Finanzunion. Seitdem hängt in der EU der Haussegen schief.

Auf dem Landesparteitag der nordrhein-westfälischen CDU blickt Bundeskanzlerin Angela Merkel aufgrund technischer Probleme während ihrer Rede unter das Rednerpult. Ein schlüssiges Konzept für die deutsche Europapolitik zu finden, ist schwieriger. (Foto: dapd)

Vor allem Deutschland hat sich in dieser Finanzkrise extrem widersprüchlich verhalten, weil es von Anfang an nicht in Richtung einer Wirtschaftsunion voranging, sondern rückwärts gewandt eine Politik der nationalen Lösungen bevorzugte, zugleich aber am Euro und den europäischen Strukturen und Verträgen nicht rütteln durfte. Beides geht jedoch nicht wirklich zusammen.

Diese widersprüchliche Haltung der Regierung Merkel verschärfte sich noch mit dem Übergang von der großen zur konservativ-liberalen Koalition und mit dem Beginn der Griechenlandkrise. Eine selbstverschuldete und zugleich massive innenpolitische Schwäche traf dabei auf die finanzpolitischen Zwänge der Eurorettung.

Die Bundeskanzlerin, die am Morgen des 7. Mai im Bundestag den "kleinen" Euro-Rettungsschirm nur unter lautem Knurren der Regierungsfraktionen durch das Parlament brachte und dabei versicherte, dass Deutschland mehr nicht zu bezahlen hätte, musste dann in der Nacht dem großen Euro-Rettungsschirm von 750 Milliarden Euro zustimmen, um die Katastrophe Europas zu verhindern. Damit schuf sie sich aber ein mehrfaches Glaubwürdigkeitsproblem, das bis heute nachwirkt.

Mehr Getriebene als Treibende

Angela Merkel hat es bis heute nicht verstanden, den Deutschen zu erklären, welche Konsequenzen sie aus Finanz- und Eurokrise zieht. Und das liegt nicht nur daran, dass sie keine gute Rednerin ist, sondern erstens an ihrem generellen Politikstil, und zweitens daran, dass sie wohl selbst nicht den Ausweg aus ihrem Widerspruch zwischen nationaler Lösung und europäischen Zwängen weiß.

Die Bundeskanzlerin führte bisher überwiegend durch Abwarten - und damit, die Verhältnisse entscheiden lassen. Erst im letzten Augenblick, wenn klar war, wo die Mehrheiten liegen, machte sie sich eine Sache zu eigen. Das hatte selbst in besseren Zeiten einen sehr großen Nachteil. Denn durch ihren passiven Stil ließ sie das Entstehen von politischen Vakuen zu, die von anderen Kräften in ihrer Partei und Fraktion gefüllt wurden. Dadurch ist Angela Merkel heute oft mehr Getriebene als Treibende. Das gilt ganz besonders in europäischen Angelegenheiten.

Dem spezifisch deutschen Widerspruch in der Eurokrise zwischen nationalen Lösungen und europäischen Zwängen versucht die Kanzlerin zu entkommen, indem sie meint, sich für ein rigides Konsolidierungsprogramm oder für harte Bestrafungsmechanismen einsetzen zu müssen - ohne Rücksicht auf die Folgen für das Verhältnis Deutschlands zu seinen Partnern in der EU. Ein "Europa der Stabilität und Solidität" heißt das in Berlin, und dafür wird Deutschland noch einen hohen Preis zu zahlen haben.

Angst vor der konservativen Presse

All diese Vorschläge sind nicht das Ergebnis einer Europastrategie, sondern überwiegend Reaktionen auf die deutsche Innenpolitik. Es dominiert in Berlin nicht die Frage, was Europa in dieser historischen Situation jetzt braucht und was Deutschlands Rolle dabei zu sein hat - sondern tatsächlich die Angst vor den weiter wegbrechenden Umfragen, vor den nächsten Landtagswahlen, vor der massiven Kritik der konservativen Presse und dem Boulevard und dem Bundesverfassungsgericht.

Die fatalen Folgen von Merkels "Führung durch Nichtführung" fallen jetzt auf die Kanzlerin selbst zurück. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Angst bereits die europäische Seele dieser Regierung aufgefressen hat. Allerdings ist es mit der deutschen Durchsetzungsfähigkeit trotz aller kraftvollen Sprüche nicht weit her, wie der jüngste Europäische Rat bewiesen hat. Die "Eiserne Kanzlerin" kam recht zusammengeschmolzen nach Hause. Dass es keinen Handlungsautomatismus geben würde, falls ein Mitgliedsstaat die Stabilitätskriterien verletzt, hatte ihr der französische Präsident Nicolas Sarkozy bereits vor dem EU-Gipfel klargemacht. Und den Kampf um den Stimmrechtsentzug verlor die Kanzlerin dann dort. Ihr "Triumph" bestand lediglich darin, dass ihr der Rat die "Prüfung" einer Vertragsänderung zugesagt hatte, allerdings unterhalb jener Schwelle, die zu Volksabstimmungen führen könnte. Im Klartext: Man vergesse alle Bestrafungs- oder Auslösemechanismen. Denn sie könnten die Souveränität eines Landes verletzen.

Der Preis der Mutlosigkeit

Was bleiben wird, ist eine verschärfte Aufsicht Brüssels - und die zeitlich unbegrenzte Fortführung des derzeit noch bis 2013 terminierten Rettungsschirms (den man auf keinen Fall einen "Bail-out"-Mechanismus nennen darf, der genau das aber sein wird: Dass die Gemeinschaft einem in Not geratenen Mitglied aus der Klemme hilft. (Der Rettungsschirm wird aus demselben Grund einen anderen Namen erhalten. So etwas nennt man heute Siege.)

Die Deutschen werden mehr und mehr jenen Stimmen vertrauen, die sie davor warnen, dass sie von Berlin in eine "Transferunion" getrickst werden sollen. Und dabei kann man dieser Kritik nicht einmal widersprechen, denn das deutsche Konstrukt wird ohne Transfers nicht funktionieren: Je mehr die EU von Deutschland in Richtung einer Stabilitätsgemeinschaft gezwungen wird, desto dringender wird sich für jene, die den neuen, harten Regeln nicht entsprechen können, die Notwendigkeit eines finanziellen Ausgleichs innerhalb der Währungsunion stellen. Es wäre völlig weltfremd anzunehmen, dass alle Mitglieder von diesem harten Kurs gleichermaßen profitieren könnten. Dies gibt es ja nicht einmal unter den sechzehn Bundesländern Deutschlands.

Faktisch marschiert die Eurozone unter Mitwirkung von Angela Merkel in Richtung Transferunion, tatsächlich muss die Kanzlerin zu Hause genau diese Diskussion fürchten. Und je härter die neuen Regeln und je größer die Zins-Differenzen zwischen den Ländern sind, umso schneller wird es Richtung Transferunion gehen müssen. Mutlosigkeit hat eben ihren Preis.

© SZ vom 08.11.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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