Flugzeugabsturz: Kaczynski tot:Die doppelte Tragödie

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Der polnische Präsident Lech Kaczynski ist bei einem Flugzeugabsturz im russischen Smolensk ums Leben gekommen. Das Unglück ist für Polen mehr als eine Flugzeugkatastrophe - denn das Staatsoberhaupt befand sich auf dem Weg zum Ort einer nationalen Tragödie.

Thomas Urban, Warschau

Der Absturz der polnischen Präsidentenmaschine im Nebel von Smolensk ist mehr als eine gewöhnliche Flugzeugkatastrophe. Er ist ein Schicksalsschlag, der sich in die große nationale Erzählung vom Leiden und Opfer der Nation einfügt. Denn Staatspräsident Lech Kaczynski war auf dem Weg zum Gräberfeld von Katyn, an Bord seines Flugzeugs waren Mitglieder der "Familien von Katyn", des Verbandes der Angehörigen der im Frühjahr 1940 vom sowjetischen Geheimdienst NKWD erschossenen polnischen Offiziere und Intellektuellen.

Hier sollte an diesem Samstag aus Anlass des 70. Jahrestages des Massenmordes der Opfer gedacht werden. Katyn ist nicht einfach der Name eines gewaltigen Kriegsverbrechens. Katyn - in diesen beiden Silben konzentriert sich das Denken der überwältigenden Mehrheit der Polen über die Geschichte ihres Landes während des 20. Jahrhunderts. Es ist - neben der Wahl eines Polen zum Papst im Jahr 1978 - das herausragende Ereignis des vergangenen Jahrhunderts.

Denn die Ermordung der polnischen Kriegsgefangenen besiegelte endgültig den Untergang des polnischen Staates. Er war erst nach dem Ersten Weltkrieg wiederentstanden, nachdem er 123 Jahre lang nach den Teilungen Polens von der politischen Landkarte Europas verschwunden war.

Ein Ort mit Geschichte

Der Name Katyn wiegt auch so schwer, weil er zum verlogenen Gründungsmythos der Volksrepublik Polen wurde. Stalin nahm nämlich die Forderungen der polnischen Exilregierung in London nach Aufklärung des Verbrechens zum Anlass, mit den Exilpolen zu brechen und ein kommunistisches Marionettenregime für Warschau zu bestimmen. Der Name stand somit für all die Geschichtslügen und -klitterungen des kommunistischen Regimes, das gegen den Willen der überwältigenden Mehrheit der Polen von den sowjetischen Nachbarn installiert wurde.

Bis zum Zusammenbruch der Parteiherrschaft im Wendejahr 1989 war es offiziell verboten, die Wahrheit zu sagen, die jeder Pole kannte. Die Uraufführung des Katyn-Films von Andrzej Wajda wurde vor drei Jahren als Staatsakt inszeniert, sie fand im Warschauer Opernhaus statt. Zugegen waren die höchsten Repräsentanten von Staat, Regierung und Kirche. Dass Monate später Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Vorführung des Films in Berlin besuchte, berichteten alle großen Warschauer Zeitungen auf der Titelseite.

Denn dies ist wohl eines der Hauptanliegen der Mehrheit der Polen auch zwei Generationen nach dem Krieg: dass die Nachbarn das Leiden der Nation wahrnehmen, ihre tragische Geschichte. Die Nachbarn im Osten, die Russen, hatten sich diesem Anliegen bislang verweigert, bis zu diesem Frühjahr.

Denn am vergangenen Mittwoch fand erstmals auf dem Gräberfeld von Katyn eine Gedenkfeier statt, an der mit Ministerpräsident Wladimir Putin ein Mitglied der Moskauer Führung teilnahm. Er hatte seinen polnischen Amtskollegen Donald Tusk dazu eingeladen, nicht aber den Präsidenten Lech Kacvzynski. Das entsprach durchaus dem diplomatischen Protokoll, nach dem ein Regierungschef einen anderen Regierungschef einladen kann, nicht aber einen Staatschef. Doch viele Polen haben die Ausgrenzung Kaczynskis mit Empörung und Verbitterung hingenommen. Hinzu kam, dass Putin bei der Feier am Mittwoch nur allgemein der "Opfer des Stalinschen Terrors" gedacht hat. Auch hat er entschieden die "Verantwortung des russischen Volkes" zurückgewiesen.

Dies hat an der Weichsel zum Teil heftige Kommentare ausgelöst. Ihm wurde Verfälschung der Geschichte vorgeworfen. Denn die Sätze Putins wurden so aufgefasst, als lehne er auch jegliche Verantwortung für Strafverfolgung, Aufklärung, gar Wiedergutmachung ab. Dabei sieht sich das heutige Russland durchaus als Rechtsnachfolger der Sowjetunion. Es müsste also auch die juristische Verantwortung für die von der sowjetischen Führung verübten Verbrechen übernehmen.

Genau dies hatte Lech Kaczynski immer wieder gefordert. Ziel seiner ersten Russland-Reise nach seiner Wahl 2005 war keineswegs, wie es diplomatischen Gepflogenheiten entsprochen hätte, der Kreml in Moskau, sondern der Wald von Katyn. Die russische Führung fühlte sich dadurch brüskiert, sie hat Kaczynski nie zu einem Staatsbesuch nach Moskau eingeladen.

Dass nun ausgerechnet die Streiter für die "Wahrheit von Katyn" auf dem Wege dorthin umgekommen sind, gibt der Flugzeugkatastrophe eine doppelt tragische Note.

Schock und Bestürzung

Die Reaktion von Lech Walesa nach dem Flugzeugabsturz zeigt die ganze Bestürzung der Polen über die unglückliche Fügung: "Dies ist die zweite Katastrophe nach Katyn", sagte der frühere Staatspräsident und Friedensnobelpreisträger.

Es wird an diesem Tag auch an das Schicksal Wladyslaw Sikorskis erinnert, des Premierministers der polnischen Exilregierung während des Zweiten Weltkriegs. Er kam 1943 bei einem Flugzeugabsturz zu Tode, kurz nachdem er von Stalin die Wahrheit über die in der Sowjetunion verschwundenen polnischen Offiziere gefordert hatte. Stalin log ihn an, sie seien in die Mongolei geflohen. Dabei hatte er selbst drei Jahre zuvor den Mordbefehl unterzeichnet.

Der 70. Jahrestag des Massakers an den polnischen Offizieren ist wegen des Todes des Präsidenten und der Nachkommen der Opfer ein Tag, der das ganze Land zutiefst erschüttert.

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