Flüchtlinge:"Das Chaos, das man draußen vermutet, gibt es wirklich"

Lesezeit: 2 min

  • Die Flüchtlingsaufnahme am Berliner Lageso verläuft unter chaotischen Zuständen. Berlins Regierender Bürgermeister Müller weist deutliche Kritik an Politik und Verwaltung dennoch zurück.
  • Doch Lageso-Mitarbeiter berichten im RBB anonym vom Versagen der Führungsebene und mangelnder Ausstattung.

Müller weist Kritik von Roth zurück

Hunderte Flüchtlinge, die sich vor dem Gebäude drängen, Kälte und Regen ungeschützt ausgesetzt: Welches Chaos am Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) herrscht, ist mittlerweise nicht nur in der Bundeshauptstadt bekannt.

Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) weist Kritik der Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth am Umgang der Berliner Politik und Verwaltung mit den Flüchtlingen trotzdem zurück. "Ich glaube, dass das Thema Flüchtlingsunterbringung nicht geeignet ist für politische Spielchen", kommentierte er einen entsprechenden Brief von Roth in der Sendung "Thadeusz" des RBB.

Roth hatte nach einem Besuch am Lageso einen offenen Brief an Müller geschrieben, in dem sie die Zustände dort kritisierte. Die Lage sei "erschreckend und einer demokratischen und rechtsstaatlichen Gesellschaft nicht würdig", hieß es darin. Roth hatte einen Vergleich zu Bayern gezogen, wo man besser mit den Herausforderungen fertig werde.

Der Brief lasse die bisherige Leistung von Berlin und die besondere Situation vor Ort außer Acht, bemerkte Müller. Berlin sei halt kein Flächenland wie Bayern.

Lageso-Mitarbeitern berichten anonym

Hört man auf Stimmen aus dem Lageso, scheinen die Probleme dort jedoch durchaus hausgemacht zu sein. "Nichts wird hier richtig zu Ende gedacht", kritisiert einer von mehreren Mitarbeitern der Behörde, die dem RBB anonym Auskunft über die Zustände dort gegeben haben. Anonym deshalb, weil Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst sich ohne Genehmigung nicht in der Presse äußern dürfen. Es sei unsicher, wie die Weihnachtsfeiertage organisiert würden, ja, es sei noch nicht einmal klar, "wer am nächsten Sonnabend und Sonntag da ist", erzählt der Bedienstete.

"Organisatorisch ist die Führungsebene völlig überfordert", sagte ein anderer Mitarbeiter. Lageso-Präsident Franz Allert trete kaum in Erscheinung, berichtet einer. Zwischen Allert und Flüchtlingskoordinator Dieter Glietsch herrsche "Funkstille", ein anderer.

Bei vielen Aussagen wird deutlich: Wichtig wäre eine bessere Organisation und Struktur, aber auch eine realistische Kanalisierung der Flüchtlinge. So erzählt ein Mitarbeiter, dass jeden Tag 500 oder mehr Flüchtlinge für neun Uhr einbestellt würden. "Wir wissen aber seit Wochen, dass wir nur maximal 200 abarbeiten können." Doch seinen Vorgesetzten zufolge müsste pro forma eine bestimmte Richtlinie eingehalten werden.

Hinzu kommt offenbar, dass es an Ausstattung fehlt, sowohl in technischer Hinsicht als auch bei Ordnungssystemen. Dem Bericht eines Mitarbeiters zufolge ist einer seiner Kollegen allein dafür zuständig, Termine zu koordinieren. Mit Tabellen und Computerprogrammen? Weit gefehlt. "Er geht ständig hoch und runter und fragt bei den einzelnen Sachbearbeitern ab, wann er wieder jemanden hochschicken kann."

Ähnlich funktioniert die Suche nach unbearbeiteten "Fällen". Deren Akten stapeln sich einem Bediensteten zufolge in gelben Postkisten - und die wiederum werden in mehreren Räumen gelagert. Ein Kollege, der sogenannte "Sucher", sei eigens dafür abgestellt, die richtigen Akten zu suchen. Ordentliche Programme, um technische Akten anzulegen, gibt es es den Mitarbeitern zufolge nicht.

"Das Chaos, das man draußen vermutet, gibt es wirklich", stellt einer fest.

Anwälte zeigen Führungsebene an

Eben dieses Chaos hat auch dazu geführt, dass am Montag Dutzende Anwälte Anzeige gegen Berlins Sozialsenator Mario Czaja (CDU) und Lageso-Chef Alert eingereicht hatten - wegen Körperverletzung und Nötigung im Amt.

Die mehr als 40 Anwälte wollen damit die Verantwortlichen für die aus ihrer Sicht chaotischen Zustände und undurchschaubaren Strukturen am Lageso zur Rechenschaft ziehen, wie zwei Juristenvereine gemeinsam mitteilten.

Der Regierende Bürgermeister Müller hält trotz der Kritik an Czaja fest. "Natürlich gibt es eine klare Verantwortung und die liegt beim Sozialsenator", sagte er. Die Herausforderungen in der Flüchtlingsfrage müssten aber vor allem in der Koalition gemeinsam angegangen werden.

© SZ.de/AFP/dpa/gal - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: