Die EU-Kommission wird am Mittwoch voraussichtlich die umstrittene Visabefreiung für türkische Staatsbürger vorschlagen, obwohl noch nicht alle Bedingungen der EU erfüllt sind. Wie aus Kommissionskreisen verlautet, wird die Behörde die Empfehlung mit einem Vorbehalt versehen.
Demnach gibt sie Ankara noch etwas Zeit, die ausstehenden Punkte abzuarbeiten und will den Fortschritt Anfang Juni in einem Zwischenbericht beurteilen. Außerdem unterstützt die Kommission nun doch den deutsch-französischen Vorschlag, eine Art Notbremse einzubauen, so dass die Visaliberalisierung unter Umständen rasch wieder zurückgenommen werden könnte. Dies will sie in einer Präambel ihres Vorschlags zum Ausdruck bringen.
Umsetzung unter Zeitdruck
Die freie Einreise in die EU ist für Ankara der wichtigste Teil des Abkommens mit der EU in der Flüchtlingskrise. Der Schritt ist zwar ohnehin seit Langem geplant, doch weil die türkische Regierung ihn so schnell wie irgend möglich umgesetzt sehen will, hat sie sich selbst und die EU unter hohen Zeitdruck gesetzt. Ursprünglich hätte über die Liberalisierung erst im Laufe des kommenden Jahres entschieden werden sollen. Im Zuge der neuen Kooperation wurde dieser Termin zunächst auf Ende Oktober und später auf Ende Juni dieses Jahres vorgezogen. Aus formalen Gründen muss die Kommission schon in dieser Woche ihre Empfehlung abgeben.
Noch im März erfüllte die Türkei nur 35 der 72 Kriterien ganz oder fast. Sie sind aufgeteilt in die fünf Bereiche Dokumentensicherheit, Migrationsmanagement, öffentliche Ordnung und Sicherheit, Grundrechte sowie Rücknahme irregulärer Migranten. Inzwischen sind nach Kommissionsangaben 62 Kriterien erfüllt. Ein weiterer Punkt, die visafreie Einreise für alle EU-Bürger in die Türkei, könnte bis Mittwoch in Ankara beschlossen worden sein.
Einige Punkte sind relativ unproblematisch, etwa jener, der sich auf ein Rückführungsabkommen mit der EU beruft, das erst im Juni in Kraft tritt. Darin verspricht die Türkei, eigene Bürger zurückzunehmen, die kein Aufenthaltsrecht in der EU mehr haben. Beim Datenschutz, der unter anderem Voraussetzung für eine Zusammenarbeit der Polizeibehörden ist, besteht die EU noch auf Nachbesserungen an einem neuen Gesetz. Es regelt unter anderem die Unabhängigkeit des Aufsichtsgremiums von der Politik.
"Türkei nicht bis Mittwoch eine Modell-Demokratie"
Heikler aber ist der Umgang der türkischen Behörden mit dem Thema Terror. Immer wieder sind in den vergangenen Jahren Oppositionspolitiker oder auch Journalisten unter Verweis auf mutmaßliche terroristische Aktivitäten verurteilt oder zum Schweigen gebracht worden. In Bedingung 65 heißt es, die Türkei müsse nicht nur ihr Rechtssystem diesbezüglich in Übereinstimmung bringen mit der Europäischen Menschenrechtskonvention und den Vorschriften in den EU-Staaten, sondern dies dann auch in der Praxis so umsetzen, dass fundamentale Rechte wie die Meinungs- und Versammlungsfreiheit gewahrt bleiben.
Es ist absehbar, dass dies Ankara nicht gelingt, falls das überhaupt gewollt wird. "Wir werden aus der Türkei nicht bis Mittwoch eine Modell-Demokratie machen", zitiert die Website Politico einen EU-Beamten. Über den Vorschlag der Kommission müssen anschließend das Europäische Parlament und die Mitgliedstaaten befinden.
Im deutschen und in anderen Innenministerien der EU wird die Visaliberalisierung auch als Sicherheitsproblem gesehen. Befürchtet wird, dass viele Kurden, die in der Türkei unterdrückt werden, nun auf einen Schlag in Europa um Asyl bitten könnten. Genau gegen diese Entwicklung wollen sich Deutschland und andere EU-Staaten mit der geplanten "Notbremse" wappnen.