Ende der Ära Berlusconi:Wie sich Italien neu erfinden kann

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Italiens politisches System liegt in Trümmern, doch das Ende des autokratischen und korrupten Berlusconi-Systems bietet auch enorme Chancen für das Land: Italiens Bürger warten geradezu auf ein Ende der unsäglichen Macho-Politik, unter der Ethik und Moral nichts zählten und allein das Gesetz der Macht und des Geldes herrschte.

Andrea Bachstein, Rom

Fast mag man es noch gar nicht glauben, dass die Zeit Silvio Berlusconis tatsächlich vorbei ist. 17 lange Jahre, zehn davon an der Regierung, hat er Italien dominiert und zunehmend überschattet. Es gehört zu den vielen Paradoxien seiner Ära, dass er in seiner allerschwächsten Phase, dem uneinsichtigen, zähen Endkampf um die Macht, noch den größtmöglichen Schaden in seinem Land und in Europa angerichtet hat. La Bella Italia steht nun nicht nur vor dem Berg seiner 1,9 Billionen Staatsschulden. Es steht auch vor einem gewaltigen politischen und moralischen Scherbenhaufen. Aufgehäuft von den Anomalien eines an Autokratie grenzenden, korrupten Systems Berlusconi.

Italien wartet auf das Ende der Berlusconi-Systems: Tausende Bürger demonstrieren bei einer Veranstaltung der Demokratischen Partei am vergangenen Wochenende auf der Piazza San Giovanni in Rom für den Rücktritt des Regierungschefs. (Foto: dpa)

Trümmer haben immer schon den Wunsch beflügelt aufzuräumen und besondere Kräfte freigesetzt. Diese große Chance gibt es jetzt in Italien. Vor allem in der Generation der unter 40-Jährigen brennen viele vor Ungeduld, endlich loslegen zu können, ihr Potential und das des Landes zu nutzen. Endlich befreit zu sein von der gelähmten und lähmenden Regierung, von all den bürokratischen Hindernissen, die Berlusconi seit 1994 versprochen hatte wegzuräumen.

Genauso sieht es der Verband der Unternehmer, die sich in der globalen Konkurrenz von den Strukturen im eigenen Land behindert fühlen. Eine Karriere wie von Apple-Gründer Steve Jobs, so ein bitterer Scherz, wäre in Italien unmöglich, weil schon das Mieten einer Garage an der Bürokratie scheitern würde. Diese Zustände wegzureformieren, muss die nächste Regierung schaffen, egal wie sie entsteht. Denn ohne Wachstum wird es schwer, der Schulden Herr zu werden.

Doch Italien ist allen Unkenrufen zum Trotz weit weg von der Situation Griechenlands. Es hat die zweitgrößte produzierende Industrie in Europa, die Steuereinnahmen liegen über den Staatsausgaben, die Neuverschuldung ist relativ gering. Es gibt großen privaten Reichtum, der investiert werden könnte. Allein das flüssige Geld auf den Bankkonten summiert sich auf 1,4 Billionen Euro. Und auch Italiens Banken stehen weitaus besser da als etwa die französischen. Die Genesung von den Finanz- und Wirtschaftsproblemen müsste mit harten, klugen Maßnahmen und Europas Begleitung zu schaffen sein. Fachleute dafür gibt es auch. Ex-EU-Kommissar Mario Monti ist nur einer von vielen.

Italienische Politiker müssen das Vertrauen der Bürger zurückgewinnen

Der andere Grund für die Notlage Italiens sind die Politik und die politische Klasse. Ihre Arroganz und Ignoranz sind Hauptgrund des verheerenden Misstrauens im Land und im Rest der Welt. Die Politik muss die Deformierung aus der Ära Berlusconi überwinden und sich erneuern, um den Italienern wieder Vertrauen in die Politik zu geben.

Doch ob diejenigen, die bisher mitregiert haben, zu heilen sind, daran darf man zweifeln. Auch wenn sie schon längst eingesehen haben, dass Berlusconi das Land vor die Wand fährt, haben sie sich nicht aus eigener Kraft von ihm befreit. Das war nur möglich durch den massiven Druck Europas und durch die Gewalteinwirkung der Finanzmärkte. Und selbst noch in diesen dramatischen Tagen haben zu viele Politiker aus Berlusconis schon einstürzendem Reich mehr an den Erhalt ihrer Macht und an ihre Privilegien gedacht als an ihr Land und an Europa.

Das hat ihnen der Milliardär Berlusconi so vorgemacht, und er hat sie gut belohnt, wenn sie mitmachten. Die Bürger spielten dabei nur eine Rolle als Besitzer von Wählerstimmen. Der skandalöse Egoismus vieler Politiker und ihre Volksferne sind Gründe für viele Leiden Italiens. Zu denen gehört auch die Spaltung der Gesellschaft, die der Berlusconismus gebracht hat. Er hat die alte, tiefsitzende Gegnerschaft von links und rechts überlagert und sogar teilweise verschärft. Berlusconi hat das alte Feindbild bedient und sich stets als Schutz vor der kommunistischen Bedrohung gepriesen.

Ein Anlass zu Hoffnung ist, dass die Sozialdemokraten und die bürgerlichen und christdemokratischen Parteien in der Mitte angesichts der Krise derzeit tatsächlich an einem Strang ziehen. Das historisch gewachsene und immer weiter vererbte Misstrauen gegen Staat und Politik hatte zuletzt viel Platz in der italienischen Seele, der Gemeinsinn dafür weniger. Wenn vom Staat wenig zu erwarten ist, kümmert man sich eben um die eigenen Interessen. Berlusconi hat diese Mentalität genährt, wo es ging und die Institutionen weiter entwertet. Er hat Justiz und Verfassung verächtlich gemacht, Gesetze verhöhnt und die demokratischen Spielregeln ebenfalls. Ethik und Moral zählten nichts oder wenig, dafür galt das Gesetz der Macht und des Geldes.

Frust über das Machotum

Dieses verheerende Modell ist die große Erblast, die Berlusconi hinterlässt. Eine ganze Generation ist sozialisiert worden unter einem Regierungschef, der seinem Egoismus folgte, und sie hat gesehen, dass man es damit ziemlich weit bringen kann. Und dass man in der Wahl der Mittel nicht allzu wählerisch sein darf. Beleg dafür ist eine der bizarrsten Erscheinungen der Berlusconi-Zeit: Dank seines Privatfernsehens und der Berichte über seine privaten Harems halten gar nicht wenige junge Mädchen eine Laufbahn als zu allen Diensten bereiten Starlets für durchaus erwägenswert.

All dem steht die unglaubliche Frustration vieler Italiener, vor allem vieler Frauen, angesichts dieser Mentalität gegenüber. Über die Scham- und Skrupellosigkeit und das überkommene Machotum. Dies bereitet vielen inzwischen regelrecht Übelkeit, und sie warten nur auf neue Vorbilder in der Politik. An vielen Stellen ist in diesen Tagen zu spüren und zu hören, dass sehr wohl ein großer Teil der Bürger bereit wäre, die Opfer und Anstrengungen zu leisten, die Reformen zweifellos verlangen würden.

Wie die neue Parteienlandschaft aussehen wird, ist noch nicht erkennbar. Der blanke, fast apolitische Populismus einer Kultgestalt dürfte jedenfalls fürs Erste erledigt sein. Und dass Berlusconis Partei PDL als strukturloser, nur um eine Person kreisender Wahlverein ohnehin keine große Zukunft haben würde, war abzusehen. Aber die PDL erweist sich als so substanzarm, dass sie bereits jetzt zerfällt, noch ehe der Premier überhaupt zurückgetreten ist. Es ist also wahrscheinlich, dass sich neue Kräfte auf der rechten Mitte formieren werden.

Und auch die linke Mitte gruppiert sich möglicherweise erneut um, da nun Berlusconi als Feindbild und Grund für den Zusammenhalt wegfällt. Es besteht viel Hoffnung, dass in Italien nun sehr vieles in Bewegung gerät und gefesselte Energien freigesetzt werden. Dabei sind auch die Intellektuellen des Landes gefragt. Viele hatten sich aus der öffentlichen Debatte in Nischen zurückgezogen, weil es unmöglich erschien, mit den Politikern aus dem Berlusconi-Kosmos eine Debatte und/oder womöglich einen konstruktiven Dialog zu führen. Nun sollten die Denker und Reformer dazu beitragen, dass Italien wieder einen freien Kopf bekommt und sich selbst neu findet. Und Europa sollte den Italienern wenigstens ein klein wenig Zeit lassen, den ganzen Spuk der erstickenden Ära von Silvio Berlusconi zu überwinden.

© SZ vom 12.11.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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