Die Grünen:Zoff an der Seitenlinie

Lesezeit: 3 min

Im Nachhall der verlorenen Wahl in Nordrhein-Westfalen sucht die Partei erneut nach einenden Strategien - und kann das Besserwissen nicht lassen.

Von Jan Bielicki und Josef Kelnberger, Mülheim an der Ruhr/Stuttgart

Hang zu "Verliererthemen": Winfried Kretschmann spart nicht mit Kritik an den beiden Spitzenkandidaten. (Foto: imago)

Alle standen auf und klatschten, zwei, drei Minuten lang. Aber nicht Ovationen für eine Siegerin trieben die Delegierten aus ihren Sitzen, sondern der Respekt vor einer Verliererin. Sylvia Löhrmann, die stellvertretende Ministerpräsidentin und viele Jahre das Gesicht der nordrhein-westfälischen Grünen, hat sich am Sonntag beim Parteirat in der Mülheimer Stadthalle aus der Führungsriege verabschiedet. Sie scheide "ohne Zorn", sagte sie. Aber eines wollte sich Löhrmann nicht anhängen lassen: die Alleinschuld an der Niederlage bei der Landtagswahl. 6,4 Prozent holten die Grünen, nur noch etwas mehr als die Hälfte des Ergebnisses von 2012. Die gesamte Partei ist, mit Blick auf die Bundestagswahl, seither tief verunsichert.

Sylvia Löhrmanns Rede warf ein Schlaglicht auf den Zustand der Grünen. Sie frage sich, sagte sie, "wie Jürgen Trittin schon am Wahlabend weiß: Die Löhrmann war's", die Schulministerin mit ihrer unpopulären Schulpolitik. Löhrmann wies den Stammesältesten der Parteilinken zurecht, um dann auch gegen den obersten Realo auszuteilen: Winfried Kretschmann, "den ich sehr schätze", habe seine Ratschläge ohne Kenntnis der Verhältnisse in NRW gegeben: "Wir schaffen das, glaube ich, auch alleine mit unserer Aufarbeitung." Dafür gab es viel Beifall.

Mit "gesinnungsethischem Überschuss" gewinnt man keine Wahlen, sagt Kretschmann

Kretschmann hatte in Interviews mit der Stuttgarter Zeitung und der taz die Niederlage der NRW-Grünen analysiert und daran die Probleme der Bundespartei festgemacht: "gesinnungsethischer Überschuss" beim linken Flügel, Radikalität statt Relevanz. Die Absage an eine Koalition mit CDU und FDP schon vor der Wahl sei ein Fehler gewesen, ebenso die permanente Kritik an Abschiebungen nach Afghanistan. Letzteres ist für viele Grüne ein Herzensthema, für Kretschmann aber in Wahlkämpfen ein "Verliererthema". Die Entscheidungsbefugnis liege nicht bei den Grünen, sondern beim Außenminister und, in Nordrhein-Westfalen, beim Innenminister vom Koalitionspartner SPD. Der letzte Abschiebeflug nach Kabul sei trotz grüner Ablehnung voller Afghanen aus NRW gewesen. Wie wolle man so Wahlen gewinnen?

Cem Özdemir, der Bundesvorsitzende und Spitzenkandidat, sah sich daraufhin zu einer öffentlichen Replik herausgefordert. Er verwahrte sich gegen "einseitige öffentliche Ratschläge von der Seitenlinie" und sprach gleichermaßen Kretschmann und Trittin an. Das schien die Dissonanzen in der Partei nur hörbarer zu machen: Ist Kretschmann jetzt auch mit Özdemir verkracht, der doch wie er selbst ein Schwabe ist und als sein Ziehsohn gilt?

Von Krach könne keine Rede sein, verlautete es am Sonntag aus Kretschmanns Umfeld. Es sei legitim, dass Özdemir seine Chefrolle ausfülle. Kretschmann habe im Übrigen nicht das geringste daran auszusetzen, wie Özdemir und Katrin Göring-Eckardt derzeit ihre Rolle als Spitzenkandidaten-Duo spielen. Nun komme es allerdings darauf an, dass die ganze Partei hinter den beiden stehe. Vom Bundesparteitag Mitte Juni in Berlin müsse ein starkes Signal der Einigkeit ausgehen.

Was Cem Özdemirs Position betrifft: Die Gereiztheiten in der Partei sind so groß, dass er keine Kritik an Trittin äußern kann, ohne zugleich Kretschmann zur Ordnung zu rufen. Es ist kein Geheimnis, dass er Kretschmanns Position teilt: Grüne Politik müsse nicht von den Rändern her, sondern aus der Mitte von Wirtschaft und Gesellschaft heraus die notwendigen Reformen vorantreiben. Der Programmentwurf für den Bundestagswahlkampf trägt die Handschrift von Özdemir und Göring-Eckardt. Die beiden sind gerade dabei, in der Partei dafür zu werben. Die Klimapolitik samt dem Wandel zur E-Mobilität steht im Mittelpunkt. Weitere Schwerpunkte: Bekenntnis zu Europa, Integration, Chancengerechtigkeit. Sollte das Papier den Parteitag im Kern überstehen, will sich Kretschmann nach Kräften im Bundestagswahlkampf engagieren. Wenn nicht - dann wird es schwierig für die Grünen.

Was ist der Kern der Grünen? Die Wahl-Analyse aus Nordrhein-Westfalen zeigt, dass die Anhängerschaft in Aufruhr ist. Etwa 70 Prozent der fast 900 000 Nordrhein-Westfalen, die vor fünf Jahren grün gewählt hatten, taten es jetzt nicht mehr. In den Landtag rettete sich die Partei, weil sie 280 000 Wähler neu gewinnen konnte. In einer Befragung stimmten 81 Prozent der Aussage zu, man wisse nicht, wofür die Grünen außer für Umweltschutz stehen. Selbst mehr als die Hälfte der Grünen-Anhänger gaben an, das nicht zu wissen.

Die Grünen hätten "vergessen zu fragen, was interessiert die Leute überhaupt", wies die Landesvorsitzende Mona Neubaur in Mülheim die Richtung der Selbstkritik. "Wir müssen überzeugen statt bevormunden", sagte die Landtagsabgeordnete Monika Düker, die als Favoritin für die Nachfolge des zurückgetretenen Fraktionschefs Mehrdad Mostofizadeh gilt. Man brauche "mehr klare Kante" gegen jene Teile der Wirtschaft, welche die Ökologisierung sabotierten, stimmte der Co-Parteichef Sven Lehmann zu, aber auch "weniger Eingriffe in die Lebensbereiche der Menschen". Klingt fast wie Kretschmann. Wenn es um die Abschiebung von Flüchtlingen geht, klingen die NRW-Grünen aber ganz anders. Wer gegen "Ratschläge aus dem Stuttgarter Talkessel" wettert, erhält dafür großen Beifall.

© SZ vom 22.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: