Deutschland und die Ausländer:Nationale Identität ist ein Hirngespinst

Nationalfarben auf der Stirn

Wofür steht Schwarz-Rot-Gold?

(Foto: Michaela Rehle/Reuters)

Ausländerfeinde sehen das "Deutsche" in Gefahr, und einige ihrer Gegner plädieren für die "richtige" nationale Identität. Dabei stammen wir alle von derselben Affen-Oma ab.

Essay von Markus C. Schulte von Drach

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Immer mehr Deutsche entdecken ihre Liebe zur Nation und demonstrieren sie mit Fahnen und Farben. Bei Sportereignissen versichern sich die Massen auf Public-Viewing-Plätzen so ihrer gemeinschaftlichen Identität als deutsche Fans. Umfragen zeigen, dass viele Fans mit Schwarz-Rot-Gold ihre Liebe zu Deutschland demonstrieren wollen, und dass man zu diesem Land steht, auf das man stolz ist.

Aber auch Pegida-Demonstranten schwenken Deutschlandfahnen als Zeichen ihrer nationalen Identität. Sie sehen ihr Land mit seinen (angeblich christlichen) Werten und seiner (abendländischen) Kultur durch Migranten in Gefahr. In einem Leitfaden für Flüchtlinge in der Stadt Hardheim im Odenwald sorgt sich der Bürgermeister um Deutschland als "sauberes Land", in dem das Eigentum anderer respektiert wird. In einer großen Umfrage der Berliner Humboldt-Universität waren 37 Prozent der Befragten der Meinung, "deutsche Vorfahren" seien wichtig, um deutsch zu sein. Und 38 Prozent meinten, Frauen, die ein Kopftuch tragen, könnten nicht deutsch sein.

Manche Kritiker der ausländerfeindlichen Demonstranten fordern nun, man dürfe den Rechten nicht die Deutungshoheit über die nationale Identität und ihre Symbole überlassen. Der falschen Gesinnung müsse die richtige gegenübergestellt werden. Für eine entsprechende "starke nationale Identität" plädiert etwa Raed Saleh in seinem FAZ-Artikel "Als ich die deutsche Fahne hisste". "Wir sind das Land, das für Fleiß und harte Arbeit steht", schreibt der Berliner SPD-Politiker, "für soziale Marktwirtschaft und gesellschaftlichen Ausgleich. Für preußische Toleranz und Vielfalt."

Andere Eigenschaften, die in Umfragen gern als typisch deutsch angegeben werden, sind Pünktlichkeit, Disziplin, Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit. Es gibt also eine Menge Eigenschaften, die für eine gewisse nationale Identität zu sprechen scheinen.

Was dabei übersehen wird: Es gibt nichts Reales, auf das sich eine nationale Identität beziehen kann. Nationen existieren nur in Köpfen derjenigen, die an sie glauben. Nationale Identität ist ein Hirngespinst.

Alle Menschen sind gleich erschaffen - oder doch nicht?

Wenn von Nation gesprochen wird, ist gemeinhin eine große Gruppe von Menschen gemeint, die sich im Besitz gemeinsamer Merkmale wähnen. Über diese identifizieren sie sich als Angehörige eines Kollektivs. So grenzen sie sich von anderen Gruppen ab. Dazu kommt der Anspruch auf ein bestimmtes Territorium.

Die Merkmale können neben gemeinsamer Abstammung und Sprache eine Religion, Kultur, geteilte Geschichte und vielleicht gemeinsame Ziele sein. Ursprünglich entwickelte sich die Idee von Nationen im 18. und 19. Jahrhundert, anfänglich vorangetrieben im revolutionären Frankreich und den USA als säkularen Gegenstücken zu Königreichen. Nationen sollten Staaten sein, die von gleichberechtigten Bürgern, nicht von Familien von Gottes Gnaden beherrscht werden.

Was aber macht einen Franzosen, Amerikaner, Briten oder Deutschen aus? Die Philosophen der Aufklärung hatten die Ansprüche aller Menschen auf Würde und gleiche Rechte aufgezeigt - unabhängig von Merkmalen wie Herkunft, Volkszugehörigkeit, Sprache oder Religion. Doch gegenaufklärerische Strömungen um Theologen wie Joseph de Maistre, Philosophen, Essayisten und romantische Dichter wie Johann Gottlieb Fichte und Johann Gottfried Herder feierten die Bedeutung genau dieser Merkmale. Wie der russisch-britische Philosoph Isaiah Berlin sagte, betrachteten sich viele von ihnen als Teil eines überpersönlichen "Organismus": Nation, Kirche, Kultur, Klasse oder die Geschichte selbst.

Zur Identitätsstiftung erfunden

Ihren "Organismen" dichteten die Gegenaufklärer Größe und Ruhm an, die kostbarer sein sollten als das Leben und Glück einzelner Bürger. Sie bedienten sich dazu verschiedener Stereotypen, Mythen und Heldengeschichten, erfanden eine nationale Literatur und andere Bestandteile einer nationalen Kultur. Und je nach historischem Kontext und den Zielen der "Erfinder" wird in jedem Land die identitätsstiftende Geschichte bis heute immer wieder neu erzählt.

Die Vorstellung der Gegenaufklärer von einer Nation bot gerade auch den durch Aufklärung und revolutionäre Bewegungen bedrohten Herrscherhäusern eine großartige Gelegenheit: Sie definierten ihre Reiche zu Nationen im Sinne historisch legitimierter Schicksalsgemeinschaften um und richteten einen "offiziellen Nationalismus" ein, etwa über die Einführung von Landessprachen. Der Soziologe Georg Elwert stellte dazu fest, dass erst die Nation die gemeinsame Sprache und Volkskultur bestimme. Die Vorstellung einer gemeinsamen Sprache hilft demnach bei der Konstruktion einer Nation, in der diese Vorstellung dann durch eine Tatsache ersetzt wird.

Dabei hatte schon der französische Historiker Ernest Renan in einer berühmten Rede an der Sorbonne 1882 festgestellt, dass sich eine Nation nicht über Rasse, Abstammung, Sprache und Religion definieren lasse. "Wie kommt es", fragte er, "dass die Schweiz mit drei Sprachen, zwei Religionen, drei oder vier Rassen eine Nation ist, während beispielsweise die so homogene Toskana keine ist? Warum ist Österreich ein Staat, aber keine Nation?"

Zur Abstammung sagte Renan: "Frankreich ist keltisch, iberisch, germanisch, Deutschland ist germanisch, keltisch und slawisch."

Heute ist noch klarer, wie sinnlos die Idee einer Volkszugehörigkeit ist. Die Zahl unserer Vorfahren verdoppelt sich mit jeder Generation. Jeder von uns kommt schnell auf Hunderte unbekannter Ahnen. Wir können gar nicht wissen, wie viele "germanische" Gene heute in einem Deutschen stecken, wie viele römische Gene - und wie viele vom Neandertaler. Evolutionär betrachtet stammen wir sowieso alle von derselben Affen-Oma ab.

Renan gab die Idee von der Nation allerdings nicht auf. Ihm zufolge war sie "ein geistiges Prinzip", bestehend aus einem gemeinsamen Erbe an Erinnerung und dem gemeinsamen Wunsch, zusammenzuleben und dieses Erbe hochzuhalten.

Ein nationales Erbe existiert nicht

Doch ein nationales Erbe existiert nicht. Gebilde, die zum Beispiel irgendwie als deutsch bezeichnet wurden, gibt es zwar schon lange. Doch sie entwickelten sich als Herrschaftsgebiete der Ottonen, Salier, Staufer, Habsburger und Hohenzollern, nicht als Territorien einer großen Menschengruppe mit gemeinsamen Zielen.

Auch die deutsche Kultur als Teil des Erbes ist ein Phantom. Sind Bach, Beethoven, Reinhard May und Rammstein deutsche Musik? Was ist mit Walther von der Vogelweide (Österreicher), Haydn (Österreicher) und Helene Fischer (geboren in Sibirien)? Sind Goethe, Schiller, Böll und Karl May deutsche Literatur? Das alles sind deutschsprachige Künstler, deren "Deutschsein" paradoxerweise gerade deshalb von manchen betont wird, weil sie Weltmusik und Weltliteratur sind. Das gilt genauso für alle Wissenschaftler und Philosophen, die irgendwann dort lebten, wo vorübergehend ein deutsches Kaiserreich existierte. Aber seit Renan ist Sprache als Grundlage für Nationen sowieso passé.

"Vorgestellte politische Gemeinschaft"

Heute sind sich Wissenschaftler und Philosophen weitgehend einig, dass die Nation, wie der US-Historiker Benedict Anderson es formulierte, eine nur "vorgestellte politische Gemeinschaft" ist. "Nationen als natürliche, gottgegebene Art, Menschen zu klassifizieren, als inheräntes ... politisches Schicksal, sind ein Mythos; Nationalismus, der manchmal bereits existierende Kulturen nimmt und sie in Nationen verwandelt [...], das ist Realität", sagte der Anthropologe Ernest Gellner. Und der britische Historiker Eric Hobsbawm betonte, nicht Nationen würden Staaten bilden, sondern umgekehrt Staaten Nationen künstlich entwickeln.

Wenn die Nation nur eine Vorstellung ist, ist die nationale Identität eine Fiktion. Allerdings können auch Fiktionen reale Gefühle auslösen. Das hängt damit zusammen, dass manche evolutionären Anpassungen an Umweltfaktoren gewissermaßen über das Ziel hinausschießen.

Unsere Wahrnehmung konnte sich zum Beispiel nicht an Musik anpassen - die es in der Natur nicht gibt. Wir haben nur gelernt, Geräusche zum Beispiel als Sprache zu interpretieren. Trotzdem können uns die richtigen Harmonien ohne jede andere Ursache zu Tränen rühren. Ähnlich ist es mit dem natürlichen menschlichen Bedürfnis nach Gruppenidentität. Es lässt sich auch durch die künstliche Komposition "Nation" erfolgreich befriedigen.

Die Fiktion von der nationalen Identität kann positive Auswirkungen auf den einzelnen Menschen haben. Indem wir Menschen, die Großes geleistet haben, für unsere Gruppe vereinnahmen und vorgebliche Gemeinsamkeiten betonen, tun wir so, als hätten wir irgendwie Anteil an ihren Leistungen - und stärken so unser Selbstbewusstsein. Wie der Historiker Hagen Schulze sagte, vermittelt die Nation außerdem dem Einzelnen "das Gefühl, dass sein Handeln für diese Gruppe seiner Existenz Sinn verleiht".

Verständlich, aber gefährlich

Die Entstehung der Fiktion und das Bedürfnis nach ihr sind also verständlich. Das macht sie aber nicht realer. Und die Fiktion ist gefährlich. Sie enthält klare und wertende Abgrenzungen anderen gegenüber, was heute etwa Flüchtlinge in Europa zu spüren bekommen, auch in Deutschland. Und sie birgt das Risiko, dass Menschen sich in einen Wahn hineinsteigern, in dem sie eine Nation, ein Vaterland, Blut und Boden oder eine Überlieferung für heilig halten. Auf diesem fruchtbaren Boden konnten und können Verführer wie Adolf Hitler ihre Saat aufgehen lassen.

So befriedigend es für den Einzelnen sein kann, eine Fiktion von Nation und nationaler Identität zu pflegen - Menschen können gut ohne sie auskommen. Mit einem gesunden Selbstbewusstsein kann man sich mit Gruppen identifizieren, in denen man sich wohlfühlt. Man kann seine Heimat lieben, mit der man vertraut ist. Und das alles ohne Vergleiche, die andere herabsetzen.

Staaten sind Gebilde, die ihren Bürgern dies als Wohlfahrtsstaaten ermöglichen könnten. Die Vielzahl der Länder könnte das Experimentierfeld sein, auf dem sie darin immer besser werden - ohne das Ziel, in der Weltgesellschaft die größte Nation von allen zu sein.

Ein internationales Kastensystem von Nationen dagegen betont die Unterschiede zwischen den Menschen und steht so der wichtigsten Erkenntnis entgegen, die es gibt: Dass alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind. Die Anerkennung der universellen Menschenrechte ist "eine Aufgabe, die sich gegen jede Form eines politisch oder auch religiös begründeten Nationalstaates mit eigenen Rechtsvorstellungen und Gesetzen richtet", schreibt der Historiker Erhard Oeser in seinem jüngst veröffentlichten Buch "Die Angst vor dem Fremden".

Ein Anfang wäre schon, sich einen Vers Goethes und Schillers aus den "Xenien" zu Herzen zu nehmen: "Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche, vergebens; Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus."

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