Der Deutsche Herbst 1977 (II) - an den Grenzen des Rechts:Zwischen Leben und Tod

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Den Erpressungen der Terroristen nachgeben oder Opfer in Kauf nehmen - wie die Politiker der Krisenstäbe bis heute mit den Entscheidungen ringen.

Stefan Klein

Deutschland, im September: Sie haben alle ihre Bilder. Nicht im Album, sondern im Kopf. Sie haben sie abrufbereit, geradeso, als wäre die Aufnahme gestern entstanden und nicht vor 30 Jahren. Auf dem Bild von Oskar Negt ist eine hilflose Gestalt mit einem Schild vor dem Bauch und der Aufschrift "Seit 31 Tagen Gefangener", im Hintergrund das Signet aus Stern, Maschinenpistole und den Buchstaben RAF.

Geisel der Gewalt: Jürgen Schumann, der später von den Entführern getötete Pilot der "Landshut". (Foto: Foto: AP/Ullstein)

Die "menschliche Entwürdigung", sagt Negt, sie habe ihn ungeheuer berührt. Auf dem Bild von Hans-Jochen Vogel sind zwei zerschossene Autos und vier mit Planen zugedeckte Leichen.

"Menschenleben", sagt Vogel, "weggeworfen wie ein Stück Holz." Das Bild von Klaus Bölling zeigt "die Physiognomie eines Mannes in äußerster Verzweiflung'', einen "gequälten Menschen'', dessen Gesicht zu sagen scheint: Ich habe so viel für diesen Staat getan, er wird mich doch jetzt nicht im Stich lassen.

Burkhard Hirsch hat auch ein Bild: die Nahaufnahme von einem Gesicht. Es ist das Gesicht eines hohen nordrhein-westfälischen Polizeibeamten, und es hat Tränen in den Augen. Es ist die Stunde des Streits, der Abrechnung, der Schuldzuweisung, wieso ist Hanns Martin Schleyer nicht gefunden worden, wer hat die Fahndungspanne, wer seinen Tod zu verantworten, und das Gesicht sagt: "Man kann ja über alles streiten, aber am Ende liegt immer ein Toter.''

Es gibt solche Bilder, die laufen durch die Erinnerung mit Ton, und das von Friedrich Zimmermann ist auch eines von der Art. Darauf ist eine Gruppe grauer Politiker, von denen plötzlich die Starre abfällt, in deren Bann sie sich befanden. Man sieht, wie sie einander umarmen und sich auf die Schultern hauen, und man hört - ja, was hört man denn? Ist es möglich? Tatsächlich: Man hört Jubel. In all den Tagen des Schreckens: Einmal ist Jubel.

Der Raufbold hält den Mund

Vor 30 Jahren wird in Deutschland ein Mann namens Hanns Martin Schleyer von deutschen Terroristen entführt. Dabei werden seine drei Bewacher und sein Fahrer getötet. Kurz danach wird das Flugzeug Landshut der Lufthansa mit 91 Menschen an Bord von arabischen Terroristen entführt. Deren Forderung ist identisch mit jener der Schleyer-Entführer: Freilassung von elf in Deutschland inhaftierten RAF-Terroristen. Die sozialliberale Regierung von Helmut Schmidt gibt den Forderungen der Entführer nicht nach. Schleyer bezahlt diese Entscheidung mit seinem Leben.

Für die Menschen im Flugzeug dagegen gibt es ein Happyend. Sie werden in einer dramatischen Rettungsaktion befreit, und bis auf den Piloten überleben alle. Der Terror der "Roten Armee Fraktion'' ist an seinem höchsten Punkt, es ist eine schwere Prüfung für die noch junge Republik, und wer wissen will, wie sie diese Prüfung bestanden hat, der muss kreuz und quer durchs Land reisen zu den Zeugen dieser Zeit.

Klub der alten Männer

Manche, die man gerne spräche, sind schon tot. Andere sind krank. Wieder andere wollen nicht. Diejenigen, bei denen man schließlich landet, sind ausnahmslos alte Männer, und wie sollte es auch anders sein nach 30 Jahren. Einer ist mit der Zeit etwas weitschweifig geworden und spricht in endlosen Schleifen. Ein anderer dagegen redet, wie er immer geredet hat: Erstens, zweitens, und die Fingerknöchel schlagen den Takt dazu auf der Tischplatte.

Wo man Altersmilde vermutet, tönt es "dumme Sau'' und "alter Esel'', soll niemand glauben, im Klub der alten Männer werde gekuschelt und gesäuselt. Burkhard Hirsch, damals Innenminister von Nordrhein-Westfalen, fasst jetzt als 77-Jähriger zwar schon mal an in der Küche und hat sich sogar mit der Waschmaschine vertraut gemacht, aber es spricht einiges dafür, dass er der Politik immer noch ein bisschen mehr Leidenschaft entgegenbringt als der Buntwäsche.

Deutscher Herbst 1977
:Tage des Terrors

In der Nacht auf den 18.10.1977 begehen im Gefängnis Stuttgart-Stammheim die drei RAF-Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jean-Carl Raspe Selbstmord. Auf die Todesnacht von Stammheim folgt die Ermordung von Hanns Martin Schleyer. Der Deutsche Herbst ist auf seinem Höhepunkt angelangt. Eine Chronik in Bildern.

Jedenfalls ist das der Eindruck, wenn man ihn in seiner Düsseldorfer Wohnung reden hört über die Tage des Terrors. Als der Innenminister des Bundeslandes, in dem Schleyer entführt wurde, gehörte der Fall eigentlich ihm, aber der Generalbundesanwalt und das Bundeskriminalamt zogen die Sache an sich, und Hirsch musste sich fügen. Allerdings erlebte er schon am ersten Tag im Polizeipräsidium von Köln "ein solches Durcheinander'', dass er sich sagte: "Das kann so nicht funktionieren.''

Er hatte Recht, aber der Raufbold in ihm, der sonst vor keinen Händeln zurückschreckte, war merkwürdig zahm, er sagte sich, Hirsch, das sind Fachleute, du bist Politiker, die müssen es besser wissen. Bis heute macht er sich den Vorwurf, den Mund nicht aufgemacht zu haben, zumal im Chaos der Schleyer-Fahndung dann ja auch der alles entscheidende Tipp verlorenging. Eine Tragödie, sagt Hirsch, furchtbar.

Für Vogel kam Austauschen nicht in Frage

Es waren Fragen von Leben und Tod, aber die Frage aller Fragen war eigentlich keine, jedenfalls nicht für die Politiker, die zu entscheiden hatten. Sollte man elf einsitzende Terroristen wie gefordert freigeben im Austausch gegen Schleyer? Sollte man es tun, nachdem sich der Druck potenziert und die Zahl der Geiseln auf 92 erhöht hatte? Hans-Jochen Vogel war damals Bundesjustizminister. Er ist heute 81Jahre alt, und man findet ihn mit seiner Frau in einem Münchner Seniorenstift. Eine kleine Wohnung im zwölften Stock, und wenn das Wetter klar ist, dann sehen sie die Alpen.

Für Vogel kam Austauschen nicht infrage, und in den Krisenstäben habe es darüber auch keinen Streit gegeben. Was es an Zweifeln gab, bei Innenminister Werner Maihofer, bei Helmut Kohl, der ein Freund Schleyers war, kam nur sehr leise und andeutungsweise an die Oberfläche. Klaus Bölling, der Regierungssprecher, stellte sich die Qualen des Entführten vor und dachte sich: Sollten wir diese Leute nicht doch ausfliegen lassen in ein Land ihrer Wahl?

Auch Vogel spricht von "quälenden Abwägungen'', aber was für ihn den Ausschlag gab, war die Überlegung, dass die Freigepressten sich ja nicht aufs Altenteil zurückziehen, nicht, wie Hirsch sagt, "zu Nonnen und Pfarren mutieren'', sondern vermutlich weiter morden würden. So wie sie es ja auch im Fall Lorenz getan hatten. Der Berliner CDU-Politiker war zweieinhalb Jahre vor Schleyer entführt worden, und da hatte man den Forderungen nachgegeben und Terroristen freigelassen. Neue Morde und Mordversuche waren die Folge, und für Vogel war das eine Lehre. Für Helmut Schmidt, den Kanzler, ebenfalls. Der war während der Lorenz-Krise krank gewesen, aber im Fall Schleyer lief er zur Hochform auf, und die Bewunderung für sein Krisenmanagement hält bei denen, die dabei waren, bis heute an.

Bis aufs Blut gereizt

Bei einem Genossen wie Vogel muss einen das nicht sonderlich erstaunen - aber bei Friedrich Zimmermann? Der hätte in seinen rabiaten Zeiten Sozis am liebsten schon zum Frühstück verputzt, und als CSU-Landesgruppenvorsitzender im Bundestag wusste er die SPD mit dem Wort von der Moskau-Fraktion bis aufs Blut zu reizen. Aber über Helmut Schmidt nur das Beste: Entschlossen. Führungsfähig. Mutig. Und als vielleicht größtes Kompliment überhaupt: "Ohne jede Rücksicht auf Linke in seiner Partei.'' Das hört sich fast schon nach einer wunderbaren Freundschaft an, und weit entfernt davon sei es nicht, sagt Friedrich Zimmermann, jedenfalls gratuliere Schmidt ihm seither zum Geburtstag. Unlängst zum 82.

Der beste Kanzler, den die Christdemokraten nicht hatten, für die anderen, für die in der Tat von Schmidt ignorierten Linken, war er dagegen ein gnadenloser Advokat der Staatsräson. So sagt es zum Beispiel der damalige Fraktionsrebell Klaus Thüsing. Aber vielleicht war es ja auch so, wie Klaus Bölling vermutet, nämlich dass da einer letzte Zweifel an der Staatstreue der Sozialdemokraten ausräumen und zeigen wollte: Wir sind keine Weicheier, wir stehen zum Staat!

Negt distanziert sich öffentlich

Eine Kraftprobe also, und als er sah, wie sie sich entfaltete, da musste der Soziologe Oskar Negt an einen Besuch denken, den ihm Anfang 1970 eine junge Frau abgestattet hatte. Sympathisch, klug, eloquent, so empfand er sie. Es war Ulrike Meinhof, und sie war gekommen, um ein Buchprojekt zu besprechen. Suhrkamp wollte eine Auswahl ihrer Kolumnen aus der Zeitschrift Konkret herausbringen, und Oskar Negt, der die Meinhof als Autorin schätzte, sollte ein Vorwort dazu schreiben.

Nur sechs Wochen später nahm Negt dann aber eine ganz andere Ulrike Meinhof wahr. Da war sie in Berlin an der gewaltsamen Befreiung von Andreas Baader beteiligt, es war die Geburtsstunde der RAF. Negt war bestürzt. Mit Gewalt ging es weiter, und Negt glaubte schon bald ein Zeichen setzen zu müssen: Als erster prominenter Linker distanzierte er sich laut und öffentlich von Baader und Meinhof. In der Szene diskutierten sie daraufhin, ob "Negt, das Schwein'', nicht als Verräter an die Wand gestellt gehöre.

So weit wird ein gewisser Frankfurter Sponti nicht gegangen sein, aber fern von jeder Distanzierung forderte er Solidarität und Unterstützung für die Genossinnen und Genossen von der RAF. Über den Selbstmord Ulrike Meinhofs 1976 sagte er in einer Rede: "Am 8.Mai wurde Ulrike im Knast von der Reaktion in den Tod getrieben, ja im wahrsten Sinne des Wortes vernichtet.'' Der Redner hieß Joschka Fischer.

Solcher Art war die Gemengelage in Deutschland, und die Hetze der rechtskonservativen Presse tat ein Übriges. Kürzlich rief bei Negt der Feuilletonchef der Welt an und wollte einen Beitrag bei ihm bestellen. Negt lehnte ab. Er hatte nicht vergessen, wie er und andere aus der linken Frankfurter Schule einst von Springers Blättern als geistige Wegbereiter des Terrorismus angeprangert worden waren. Es war nicht die Zeit für feine Differenzierungen, und auch der Staat ließ Hemmungen fahren. Klaus Thüsing sagt: "Die Morde der RAF wurden genutzt, um Teile des liberalen Rechtsstaats zurückzufahren.'' Was an Maßnahmen ergriffen worden sei, um den Terror zu bekämpfen, habe ihm mehr Angst gemacht als der Terror selber.

Briefwechsel Baum - Vogel

Allein die vielen neuen Gesetze, von denen Kritiker sagten, sie würden den Rechtsstaat zu Tode schützen. Vogel verteidigt sie nachdrücklich, und weil für ihn Ordnung mehr ist als nur das halbe Leben, hat er auch sogleich eine detaillierte juristische Ausarbeitung zur Hand, die er selber verfasst hat zum Beweis, dass der Rechtsstaat nicht beschädigt, sondern im Gegenteil gestärkt wurde.

Der Liberale Gerhard Baum sieht es anders, und er hat deswegen mit Vogel gerade einen Briefwechsel geführt. Baum ist mit seinen 74 Jahren im Klub der alten Männer einer der jüngeren, aber dass einem das an diesem Tag auffällt, liegt auch daran, dass er gerade aus dem Urlaub zurückgekommen ist. Er hat eine gute Hautfarbe und kann in seinem Kölner Anwaltsbüro kaum sitzen vor Tatendrang.

Baum findet, der Staat habe seinerzeit überreagiert, er habe die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit verloren und einen gesetzgeberischen Ausnahmezustand geschaffen. Er habe sich zum Beispiel wegen solcher Anwälte, die mit den Baaders und Meinhofs konspirierten, dazu verleiten lassen, Eingriffe in das Prinzip der ungehinderten Verteidigung vorzunehmen. Kurzum: Durch seine Überreaktion auf die Herausforderung RAF sei der Staat "hässlich'' geworden und habe von der anderen Seite als Feindbild benutzt werden können. Aber hat er als damaliger Staatssekretär im Innenministerium nicht all dies mitgetragen? Ja, sagt Baum, es sei auch ein Stück Selbstkritik.

"Apokalyptische Reiter''

Was Baum heute sagt, dachte Negt schon damals. Er hatte das Gefühl, dass man im Begriff war, den Terrorismusverdacht auszuweiten und die Bevölkerung, speziell die Intellektuellen, unter eine Art Generalverdacht zu stellen. Er dachte, da ist etwas im Gange, das die Republik an den Rand der autoritären Gesellschaft treibt und sich womöglich nicht mehr rückgängig machen lässt. Er besprach seine Ängste mit Jürgen Habermas, und der sagte, nein, diese deutsche Nachkriegsdemokratie kann nicht mehr umkippen. Negt war sich nicht so sicher. Er war nicht der einzige, der Zweifel hatte, auch Burkhard Hirsch zählte dazu.

Ihm imponierte ein Wort, das vom damaligen Düsseldorfer Ministerpräsidenten Heinz Kühn stammte. Der hatte einen Hang zu etwas schwülstigen Formulierungen, und auch dieser Satz kam nicht gerade trocken daher: Die Terroristen, sagte Kühn, seien die apokalyptischen Reiter der Reaktion, und genauso empfand es Hirsch. Sie, die Terroristen, hätten "unsere bis dahin liberale Rechts- und Innenpolitik in äußerste Gefahr gebracht, ins krasse Gegenteil umzuschlagen''. Hirsch fand es erschreckend, was in den Krisenstäben und am Rande derselben an "extremen Vorstellungen'' entwickelt wurde, und manchmal habe er sich die Frage gestellt: ,,Ist das jetzt wirklich ernstgemeint oder dreht der einfach mal durch?''

Plötzlich war wieder von der Todesstrafe die Rede, und als Helmut Schmidt einmal um "exotische Vorschläge'' bat zur Lösung der Schleyer-Krise, da meldete sich auch Franz-Josef Strauß zu Wort. Was genau er gesagt hat, ist umstritten, es gibt inzwischen mehrere Versionen. Klaus Bölling sagt, er wisse zwar den Wortlaut nicht mehr, aber "in der Substanz'' habe er den Strauß-Vorschlag noch genau im Ohr. Herr Bundeskanzler, habe er gesagt, wenn wir akzeptieren, dass die RAF eine Krieg führende Partei ist, dass sie also einen Kombattantenstatus hat, dann können wir, wenn die einen unschuldigen Menschen umbringen, stündlich einen von denen erschießen. Legen die noch einen um, dann stellen wir da ein Bataillon hin.

Bekannte Methoden

Ungute Zeiten, aber lange her und eigentlich fast schon Geschichte - oder vielleicht nicht? Geht es heute nicht auch wieder gegen den Terrorismus? Und werden zu seiner Bekämpfung nicht auch wieder Maßnahmen vorgeschlagen, die den Rechtsstaat strapazieren und Ängste auslösen, die fast so groß sind wie die vor dem Terror selber?

Gerhard Baum kommen die Methoden sehr bekannt vor: "Es wird den Leuten gesagt, wir können was tun gegen die Bedrohung, obwohl man in Wahrheit höchstens das Risiko verringern kann. Und dann wird gesagt, ihr braucht nur das und das zu akzeptieren, und alles wird besser. Und mit der Angst vor der Bedrohung und der Gleichgültigkeit der Menschen gegenüber der Einschränkung von Rechten funktioniert das dann. Damals wie heute.''

Der Schluss liegt nahe, und Baum spricht ihn auch aus: Seiner Meinung nach hat die Politik aus den Erfahrungen von vor 30 Jahren nichts gelernt. Er findet es verhängnisvoll, den hungrigen Präventionsstaat immer weiter zu füttern, denn: Nie werde der genug bekommen, es werde sich immer noch etwas finden, was auch zur Prävention gehöre. Für Baum ist das eine schiefe Ebene, die er auch deshalb für gefährlich hält, weil es immer mehr in Richtung der sogenannten verdachtsunabhängigen Fahndung gehe.

Lehren aus der Krise?

So mag man es sehen - nur nicht, wenn man Friedrich Zimmermann heißt. Der war Nachfolger Baums als Bundesinnenminister, er konnte ihn schon damals nicht ausstehen, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Die Untersuchung über die Ursachen des deutschen Terrorismus, die Baum noch in Auftrag gegeben hatte, brachte Zimmermann nur höchst widerwillig heraus. Er sah darin ein lächerliches Machwerk von Ideologen.

Fragt man Zimmermann, was die Lehre sei aus der Krise vor 30Jahren, dann redet er von Waffen, von Polizeiarbeit und davon, dass er als Minister die Eingreiftruppe GSG9, die damals die Geiseln in der Landshut befreit hatte, konsequent gefördert habe.

Aufrüstung also, doch da kommt aus der Düsseldorfer Wohnung von Burkhard Hirsch auch schon der Gegenruf: Mehr Gelassenheit! Und Hans-Jochen Vogel sagt wieder etwas anderes. Er sagt, dass die Bundesrepublik damals in der Lage gewesen sei, mit einer für sie völlig neuen Herausforderung "in angemessener Weise'' fertig zu werden. Und Oskar Negt? Ein Mittagessen bei einem Italiener in Hannover geht zu Ende, es ist viel geredet und wenig gegessen worden. Negt ist ein Denker, der sich viel mit dem Begriff Würde beschäftigt hat, deshalb hat ihn auch das Bild des Gefangenen Schleyer damals so berührt. Und die Würde des Staates? Oder gibt es die nicht?

Negt sagt, der Staat und seine demokratischen Institutionen seien damals auf ihre Haltbarkeit und Strapazierfähigkeit hin getestet worden, und letztlich seien sie gestärkt daraus hervorgegangen. Die Freiheitsrechte jedenfalls sieht er beim Bundesverfassungsgericht gut aufgehoben, Ex-Innenminister Otto Schily mit seinen "Sicherheitsphantasien'' habe das wiederholt zu spüren bekommen.

Als wir vom Tisch aufstehen und uns verabschieden, sieht Oskar Negt plötzlich, dass im selben Lokal, ein paar Tische weiter, seine beiden jüngsten Kinder sitzen, Philipp und Leonore. Der eine 1983 geboren, die andere sechs Jahre später. Die RAF, die deutsche Stadtguerilla, befand sich da bereits in den letzten Zügen, und irgendwie denkt man beim Anblick dieser beiden jungen Menschen: beneidenswert, haben die Angst, die Hysterie, dieses bleierne Unwohlsein eines Landes nicht erlebt. Erst als das Thema in der Schule gestreift wurde, hat der Sohn seinen Vater darauf angesprochen, und irgendwie klang es, als habe es sich bei Ulrike Meinhof um eine Art Kultfigur gehandelt. Nein, sagte Oskar Negt, das seien Kriminelle gewesen und ihr Weg ein Irrweg.

© SZ vom 7.9.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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