Bundesverfassungsgericht:Rechnungen der Rivalen

Lesezeit: 3 min

Claus Weselsky, Chef der Lokführergewerkschaft GDL, kämpft gegen Regelungen, über die einer der Verfassungsrichter sagt: "Das Gesetz lässt die Minderheitsgewerkschaft allein. Das ist natürlich eine fatale Situation." (Foto: Rainer Jensen/dpa)

Die Karlsruher Richter prüfen, wie sie konkurrierende Gewerkschaften zur Zusammenarbeit bewegen könnten.

Von Detlef Esslinger und Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Wer beschreiben will, welche Probleme das Gesetz zur Tarifeinheit mit sich bringt, kann sich an Rudolf Henke halten, den Chef der Ärztegewerkschaft Marburger Bund; einerseits. Henke soll den acht Richtern vor ihm erklären, wozu dieses Gesetz führen kann. Es bestimmt: In einem Betrieb, in dem mehrere Gewerkschaften aktiv sind und miteinander kollidierende Tarifverträge abschließen, gilt nur noch der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft, die dort die meisten Mitglieder hat. Henke steht also am Pult vor der Richterbank und sagt, in seiner Organisation liefen Debatten, wie sie künftig Mehrheiten bilden könne in den Kliniken; Ärzte stellen ja immer nur den kleineren Teil des Personals. Henke sagt: "Die Frage ist, ob wir von der Ärzte- zur Gesundheitsgewerkschaft werden müssen." Nur indem der Marburger Bund also etwa auch Pfleger aufnehme, habe er eine Chance, der Konkurrenz von Verdi zahlenmäßig überlegen zu sein - und im Klinikbetrieb Tarifverträge abzuschließen, die dann den Vorrang haben. Was Henke sagen will: Das neue Gesetz befriedet die Rivalität unter Gewerkschaften nicht, sondern befeuert sie.

Um das Problem zu beschreiben, kann man sich aber auch an Andrea Nahles halten, die Bundesarbeitsministerin von der SPD. Sie argumentiert ebenfalls mit dem Marburger Bund und der Idee "Gesundheitsgewerkschaft". Sie liest ein Zitat von Henkes Vorgänger Frank Montgomery vor, der, als er noch Vorsitzender war, sagte, damit würde er ja sein Geschäft kaputt machen. "Dann müsste ich ja den Kompromiss suchen", auch mit anderen Berufsgruppen. Derzeit aber könne er "ungeniert unsere Interessen durchsetzen". Was Nahles wiederum sagen will: Die Berufsgewerkschaften mit ihrer Rigidität, sei es Marburger Bund, sei es die Lokführergewerkschaft GDL, sei es Cockpit, bedeuten ein Problem, das gelöst werden muss.

Zwei Tage lang verhandelt der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts das Gesetz zur Tarifeinheit, es wogt hin und her. Am Dienstagabend sieht es zunächst so aus, als hielten zumindest die Fragen stellenden Richter das Gesetz für recht problematisch. Ferdinand Kirchhof, der Vorsitzende, sagt: "Das Gesetz lässt die Minderheitsgewerkschaft allein. Das ist natürlich eine fatale Situation." Susanne Baer, die Berichterstatterin, fragt den Bevollmächtigten der Bundesregierung voller Ironie: Falls der Marburger Bund sich zur Gesundheitsgewerkschaft ausbaue, "ist das Teil der domestizierenden Wirkung, die sich die Bundesregierung bei dem Gesetz vorstellt?" Der Staatsrechtler Uwe Volkmann antwortet mit der Hoffnung auf einen "langfristigen Koordinationsprozess", für den das Gesetz den Anreiz schaffen wolle.

Am Mittwoch wird klar, dass die Richter keineswegs gewillt sind, das Gesetz bloß zu stoppen und die Berufsgewerkschaften einfach machen zu lassen. Kirchhof, der Vorsitzende, fragt die Vertreter der Berufsgewerkschaften: "Haben Sie Vorschläge, wie das Gesetz das Problem anders als bisher bewältigen könnte?" Der Richter Johannes Masing fragt, ob es nicht gerade die Absicht des Gesetzgebers sein könne, dass eine Ärzte- zur Gesundheitsgewerkschaft werde? "Dann müsste sie ja auch die Interessen anderer Gruppen im Blick haben."

Das Gesetz setzt auf Verdrängung - mit gravierenden Folgen für die Minderheitsgewerkschaft

Wie könnte so ein Mittelweg aussehen, der das auf Gewerkschaftskompromisse ausgerichtete Gesetz zumindest in seinen Grundzügen bestehen lässt? Bisher setzt das Gesetz auf Verdrängung - mit gravierenden Konsequenzen für die Minderheitsgewerkschaft, wie Richter Andreas Paulus anmerkt: "Warum sollte ein Betriebsangehöriger einer Gewerkschaft beitreten, die keine Tarifverträge abschließen kann?" Und die Kompensation, die bisher für die Unterlegenen vorgesehen ist, gleicht einem Zuckerstückchen: Schmeckt süß, löst sich aber in nichts auf. Zum Beispiel das Recht, den Tarifvertrag des Siegers "nachzuzeichnen": Weil eine Gewerkschaft damit nur in Teile eines anderen Tarifvertrags einsteigen kann, gingen eigene Verhandlungserfolge bei der Nachzeichnung verloren - kein gutes Instrument der Mitgliederwerbung. Oder das "Anhörungsrecht" der Minderheit: dass wirklich jemand zuhört, ist so nicht gewährleistet.

Vorstellbar wäre, dass Karlsruhe darauf dringt, diese Rechte aufzuwerten, sodass sie für den Verlierer im Rennen um den Tarifvertrag einen wirkungsvolleren Ausgleich böten. So könnte man etwa über Regelungen nachdenken, die den Verdrängungseffekt nicht ganz so martialisch ausfallen lassen und den Minderheits-Tarifvertrag in bestimmten Konstellationen doch erhalten, deutet Kirchhof an. Ob sich solche Korrekturen durch höchstrichterliche Auslegung hinbiegen lassen oder der Gesetzgeber wieder von vorn beginnen müsste - das wird man erst in ein paar Monaten bei der Urteilsverkündung sehen.

© SZ vom 26.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: