Bundesverfassungsgericht:Karlsruhe fordert Europagericht heraus

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Die Richter verwerfen einen EU-Haftbefehl. Damit stellen sie sich gegen den Europäischen Gerichtshof.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Das höchste deutsche Gericht macht Ernst mit der verfassungsrechtlichen Kontrolle von EU-Recht. Wegen eines Verstoßes gegen die Menschenwürde hat das Bundesverfassungsgericht den Vollzug eines EU-Haftbefehls unterbunden. Damit haben die Richter erstmals eine Maßnahme für verfassungswidrig erklärt, die sich allein nach europäischem Recht richtet und damit eigentlich der Prüfung durch das höchste deutsche Gericht entzogen wäre. Zur Wahrung der "Verfassungsidentität" müssten Hoheitsakte der EU "in eng begrenzten Einzelfällen für unanwendbar erklärt werden", argumentierte der Zweite Senat.

In dem Fall geht es um einen US-Bürger, der 1992 in Florenz wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und Drogenhandels zu 30 Jahren Haft verurteilt worden war - und zwar in Abwesenheit. 2014 wurde er in Deutschland aufgrund eines EU-Haftbefehls festgenommen, Italien fordert nun seine Auslieferung. Bei einem EU-Haftbefehl ist die Auslieferung normalerweise ein Automatismus. Es gilt das Prinzip des gegenseitigen Vertrauens in die Rechtsstaatlichkeit der beteiligten Länder: Der Staat, der den Verdächtigen festgenommen hat, muss grundsätzlich ausliefern - selbst dann, wenn er Zweifel hat, ob ein in Abwesenheit Verurteilter auf ein faires Verfahren hoffen kann. Das hatte der Europäische Gerichtshof 2013 entschieden.

Solche Zweifel haben nun jedoch den Zweiten Senat - als Berichterstatter war Peter Huber zuständig - zum Einschreiten veranlasst. Der US-Bürger hatte geltend gemacht, dass er in Italien gegen seine Verurteilung zwar Berufung einlegen könne - eine erneute Beweisaufnahme sei dort aber nicht vorgesehen. Aus Sicht der Verfassungsrichter verstößt dies gegen den "Schuldgrundsatz", der im Grundgesetz in der Garantie der Menschenwürde und im Rechtsstaatsprinzip verankert sei. Danach müsse einem Angeklagten die Ermittlung des wahren Sachverhalts und damit auch die Auseinandersetzung mit seiner Persönlichkeit garantiert sein - was grundsätzlich dessen Anwesenheit im Prozess voraussetze. Diese Garantien müssten auch im Auslieferungsverfahren beachtet werden. (Az: 2 BvR 2735/14)

Aus dem Beschluss wird freilich deutlich, dass es sich hier um einen krassen Ausnahmefall handelt - weil der Angeklagte sonst für 30 Jahre eingesperrt worden wäre, ohne je selbst im Prozess angehört worden zu sein. Grundsätzlich habe das Regelwerk des EU-Haftbefehls Vorrang vor dem deutschen Recht, das Verfassungsgericht übe seine Kontrollbefugnisse "zurückhaltend und europarechtsfreundlich" aus.

Zugleich jedoch setzt das Gericht damit um, was es 2009 im Urteil zum Vertrag von Lissabon angekündigt hatte. Der Kern des Grundgesetzes - die Garantie der Menschenwürde - ist "europafest"; die mit dem Ewigkeitsschutz des Grundgesetzes versehene "Verfassungsidentität" löst sich nicht in den europäischen Paragrafen auf. Damit hat das Gericht seinen Anspruch bekräftigt, trotz der wachsenden Dominanz des Europäischen Gerichtshofs auch in europäischen Fragen ein gewichtiges Wort mitzureden.

© SZ vom 27.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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