Bundesverfassungsgericht:Gebogen, bis es passt

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Die Karlsruher Richter haben dem Gesetz zur Tarifeinheit die Ecken und Kanten genommen. Vieles bleibt aber nun vage. Auf die Arbeitsgerichte kommt einiges zu.

Von Wolfgang Janisch

Manchmal sind Überschriften nur eine verfeinerte Form der Lüge. "Das Tarifeinheitsgesetz ist weitgehend mit dem Grundgesetz vereinbar", hat das Bundesverfassungsgericht über seine Pressemitteilung vom Dienstag geschrieben. Das Tarifeinheitsgesetz, nur zur Erinnerung, war letztlich gegen die Macht von Kleingewerkschaften gerichtet, die durch ihre Schlüsselposition im Betrieb mit kleinem Streikaufwand große Wirkung erzielen können; Lokführer, Piloten, Flugbegleiter - jeder mobile Mensch hat ihnen schon ein paar Stunden seines Lebens auf Bahnsteigen und in Wartehallen geopfert. Das Gesetz zur Disziplinierung kleiner Gewerkschaften ist also im Prinzip in Ordnung? Warum steht dann Claus Weselsky, Chef der Lokführergewerkschaft GDL, grimmig-fröhlich im Gerichtssaal und sagt, der Versuch, Spartengewerkschaften zu vernichten, sei gescheitert?

Das Gericht wirft dem Gesetzgeber eine "bewusst erzeugte Unsicherheit" vor

Die Wahrheit ist: Das Gesetz ist keineswegs verfassungsgemäß, es ist sogar ziemlich grundgesetzwidrig - und war nur zu retten, weil die Richter es an allen Ecken so zurechtgebogen haben, dass es gerade noch in den Rahmen des "Gewerkschafts-Artikels" im Grundgesetz passt. Verfassungskonforme Auslegung nennt man das, eine schonende Methode, Gesetze durch die Brille des Grundgesetzes zu lesen, um sie nicht mit großem Aplomb einstampfen zu müssen. In diesem Fall war das sogar im eigenen Senat umstritten: "Die Reparatur eines Gesetzes, das sich als teilweise verfassungswidrig erweist, weil Grundrechte unzumutbar beeinträchtigt werden, gehört nicht zu den Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts", schreiben die Richter Susanne Baer und Andreas Paulus in einer abweichenden Meinung.

Was also liest nun das Gericht aus dem Gesetz heraus? Um einmal mit dem Streikrecht anzufangen: Es wurde zwar nicht ausdrücklich geregelt, doch nach dem Willen der großen Koalition sollte dem Arbeitskampf die Spitze genommen werden, indem im Betrieb der Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft jenen der Minderheit verdrängt. Ein Streik für einen Vertrag, der absehbar ins Leere geht, ist indes nicht nur schwer vermittelbar, sondern könnte auch Schadenersatzforderungen nach sich ziehen, wenn er sich als rechtswidrig herausstellt - eine "vom Gesetzgeber bewusst erzeugte Unsicherheit", schreibt das Gericht. Im selben Atemzug hält das Gericht aber fest: Das Streikrecht darf nicht durch das Haftungsrisiko einer Gewerkschaft zunichte gemacht werden. Das heißt: Selbst wenn eine Gewerkschaft ersichtlich nur eine Minderheit im Betrieb vertritt, bleibt das Streikrecht unangetastet. Das war ein Grund für Weselskys Zufriedenheit.

Auslegungssache: Streiks wie der Ausstand der Lufthansa-Piloten dürften nach dem Karlsruher Spruch künftig häufiger Gegenstand von Prozessen werden. (Foto: Uwe Anspach/dpa)

Auch sonst liest sich das 70-seitige Urteil wie eine Gebrauchsanweisung für ein überwiegend missglücktes Gesetz. Als wirksamste Waffe der Multibranchengewerkschaft ist darin die Verdrängung von Tarifverträgen einer Minderheit im Betrieb vorgesehen; diese Waffe wird gleich mehrfach entschärft. Erstens darf "Verdrängung" laut Gericht nicht bedeuten, dass langfristig wichtige Leistungen, auf die der Arbeitnehmer seine Lebensplanung ausgerichtet hat, mit einem Schlag zunichte gemacht werden. Leistungen zur Alterssicherung, zur Arbeitsplatzgarantie oder zur Lebensarbeitszeit dürfen demnach nicht verloren gehen, nur weil sie im neuen Mehrheits-Tarifvertrag nicht mehr vorhanden sind. Überhaupt will Karlsruhe den Verdrängungseffekt möglichst gering halten, sodass im Zweifel auch der Tarifvertrag der Spartengewerkschaft teilweise erhalten werden kann - dort, wo keine klare Überschneidung stattfindet. Und schließlich: das sogenannte Nachzeichnungsrecht. Das ist als Bonbon für die zahlenmäßig unterlegene Gewerkschaft gedacht gewesen, sie soll den Mehrheits-Tarifvertrag "nachzeichnen" können. Das Karlsruher Gericht liest dies nun so, dass man sich damit auch die Errungenschaften der Konkurrenz zunutze machen kann, auch dort, wo der eigene Tarifvertrag nichts zu bieten hat.

Und doch bleiben am Ende mehr Fragen als Antworten. Eine davon lautet: Was wird in der Praxis passieren? Das Bundesverfassungsgericht verweist an vielen Stellen auf die Arbeitsgerichte, die dann die Einzelfragen klären müssten. Für Gewerkschaften und Arbeitgeber heißt dies, dass man sich zumindest eine Zeit lang auf schwankendem Boden bewegen wird. Streik, Verdrängung, Nachzeichnung - viele Detailfragen werden sich erst auf dem mühsamen Weg durch die arbeitsgerichtlichen Instanzen klären lassen. Gut möglich, dass alle Beteiligten lieber auf die Anwendung des komplizierten Gesetzes verzichten; die Verdrängungsregelung ist "tarifdispositiv", die Tarifparteien können also im allseitigen Einvernehmen darauf verzichten.

Rätselhaft ist zudem, warum der Erste Senat des Gerichts den leckgeschlagenen Dampfer Tarifeinheitsgesetz nicht einfach versenkt hat, statt ihn mühsam zu flicken. Die Mehrheit der Fachleute hatte das Gesetz ohnehin für verfassungswidrig gehalten. Für die beiden überstimmten Richter - Susanne Baer war sogar als Berichterstatterin für das Verfahren zuständig - war schon die politische Ausgangslage fragwürdig: "Es ist nicht zu übersehen, dass die angegriffenen Regelungen auf einen einseitigen politischen Kompromiss zwischen den Dachorganisationen Deutscher Gewerkschaftsbund und Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände zurückgehen." Und die nervigen Lokführer, Piloten, Flugbegleiter? Baer und Paulus verweisen auf die Zahlen: Die Streikhäufigkeit habe insgesamt nicht zugenommen.

© SZ vom 12.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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